Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Herren Präsidenten! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Exzellenzen! Liebe Gäste!
Das
Paradox gehört nicht zu den üblichen Ausdrucksmitteln juristischer
Texte, die schließlich größtmögliche Klarheit anstreben. Einem Paradox
ist notwendig der Rätselcharakter zu eigen, ja, es hat dort seinen
Platz, wo Eindeutigkeit zur Lüge geriete. Deshalb ist es eines der
gängigsten Mittel der Poesie.
Und doch beginnt ausgerechnet das
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit einem Paradox. Denn wäre
die Würde des Menschen unantastbar, wie es im ersten Satz heißt, müsste
der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der
zweite Satz verlangt. Die Würde existierte unabhängig und unberührt von
jedweder Gewalt. Mit einem einfachen, auf Anhieb kaum merklichen
Paradox ‑ die Würde ist unantastbar und bedarf dennoch des Schutzes ‑
kehrt das Grundgesetz die Prämisse der vorherigen deutschen Verfassungen
ins Gegenteil um und erklärt den Staat statt zum Telos nunmehr zum
Diener der Menschen, und zwar grundsätzlich aller Menschen, der
Menschlichkeit im emphatischen Sinn. Sprachlich ist das ‑ man mag es
nicht als brillant bezeichnen, weil man damit einen eminent normativen
Text ästhetisierte – es ist vollkommen, nichts anderes.
Überhaupt
wird man die Wirkmächtigkeit, den schier unfassbaren Erfolg des
Grundgesetzes nicht erklären können, ohne auch seine literarische
Qualität zu würdigen. Jedenfalls in seinen wesentlichen Zügen und
Aussagen ist es ein bemerkenswert schöner Text und sollte es sein.
Bekanntlich hat Theodor Heuss die ursprüngliche Fassung des ersten
Artikels mit dem Argument verhindert, dass sie schlechtes Deutsch sei.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ hingegen ist ein herrlicher
deutscher Satz, so einfach, so schwierig, auf Anhieb einleuchtend und
doch von umso größerer Abgründigkeit, je öfter man seinen Folgesatz
bedenkt: Sie muss dennoch geschützt werden. Beide Sätze können nicht
gleichzeitig wahr sein, aber sie können sich gemeinsam, nur gemeinsam,
bewahrheiten und haben sich in Deutschland in einem Grade bewahrheitet,
wie es am 23. Mai 1949 kaum jemand für möglich gehalten hätte. Im
deutschen Sprachraum vielleicht nur mit der Luther-Bibel vergleichbar,
hat das Grundgesetz Wirklichkeit geschaffen durch die Kraft des Wortes.
„Jeder
hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“: Wie
abwegig muss den meisten Deutschen, die sich in den Trümmern ihrer
Städte und Weltbilder ums nackte Überleben sorgten, wie abwegig muss
ihnen die Aussicht erschienen sein, so etwas Luftiges wie die eigene
Persönlichkeit zu entfalten. Aber was für ein verlockender Gedanke es
zugleich war!
„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“: Die
Juden, die Sinti und Roma, die Homosexuellen, die Behinderten, überhaupt
alle Randseiter, Andersgesinnten und Fremden, sie waren ja vor dem
Gesetz gerade nicht gleich - also mussten sie es werden.
„Männer
und Frauen sind gleichberechtigt“: Der Wochen und Monate währende
Widerstand just gegen diesen Artikel zeigt am deutlichsten, dass Männer
und Frauen 1949 noch keineswegs als gleichberechtigt galten; seine
Wahrheit wurde dem Satz erst in der Anwendung zuteil.
„Die
Todesstrafe ist abgeschafft“: Das war gerade nicht der Mehrheitswunsch
der Deutschen, die in einer Umfrage zu drei Vierteln für die
Beibehaltung der Todesstrafe plädierten, und wird heute weithin bejaht.
„Alle
Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet“: Der Satz war
den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates angesichts der
Flüchtlingsnot und des Wohnungsmangels fast peinlich und gilt 65 Jahre
später nicht nur im wiedervereinigten Deutschland, sondern in halb
Europa. Der Bund kann „in die Beschränkungen seiner Hoheitsrechte
einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa“
herbeiführen. Das dachte ‑ 1949! ‑ ein vereinigtes Europa, ja: die
Vereinigten Staaten von Europa voraus.
Und so weiter: das
Diskriminierungsverbot, die Religionsfreiheit, die Freiheit von Kunst
und Wissenschaft, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit – das waren,
als das Grundgesetz vor 65 Jahren verkündet wurde, eher Bekenntnisse,
als dass sie die Wirklichkeit in Deutschland beschrieben hätten. Und es
sah zunächst keineswegs danach aus, als würde der Appell, der in diesen
so schlichten wie eindringlichen Glaubenssätzen lag, von den Deutschen
gehört.
Das Interesse der Öffentlichkeit am Grundgesetz war aus
heutiger Sicht beschämend gering, die Zustimmung innerhalb der
Bevölkerung marginal. Befragt, wann es Deutschland am besten gegangen
sei, entschieden sich noch 1951 in einer repräsentativen Umfrage
45 Prozent der Deutschen für das Kaiserreich, 7 Prozent für die Weimarer
Republik, 42 Prozent für die Zeit des Nationalsozialismus und nur
2 Prozent für die Bundesrepublik. 2 Prozent! Wie froh müssen wir sein,
dass am Anfang der Bundesrepublik Politiker standen, die ihr Handeln
nicht nach Umfragen, sondern nach ihren Überzeugungen ausrichteten.
(Beifall)
Und
heute? Ich habe keinen Zweifel, dass die Mitglieder des
Parlamentarischen Rates, sollten sie unsere Feststunde von der
himmlischen Ehrentribüne aus verfolgen, zufrieden und sehr erstaunt
wären, welche Wurzeln die Freiheit innerhalb der letzten 65 Jahre in
Deutschland geschlagen hat. Und wahrscheinlich würden sie auch die
Pointe bemerken und zustimmend nicken, dass heute ein Kind von
Einwanderern an die Verkündung des Grundgesetzes erinnert, das noch dazu
einer anderen als der Mehrheitsreligion angehört. Es gibt nicht viele
Staaten auf der Welt, in denen das möglich wäre. Selbst in Deutschland
wäre es vor noch gar nicht langer Zeit, sagen wir am 50. Jahrestag des
Grundgesetzes, schwer vorstellbar gewesen, dass ein Deutscher die
Festrede im Bundestag hält, der nicht nur deutsch ist.
In dem
anderen Staat, dessen Pass ich besitze, ist es trotz aller Proteste und
aller Opfer für die Freiheit undenkbar geblieben. Aber, das möchte ich
von diesem Pult aus ebenfalls sagen, sehr geehrte Herren Präsidenten,
Frau Bundeskanzlerin, meine Damen und Herren Abgeordnete, liebe Gäste
und nicht zuletzt Seine Exzellenz, der Botschafter der Islamischen
Republik, der heute ebenfalls auf der Tribüne, obschon nicht der
himmlischen, sitzt: Es wird keine 65 Jahre und nicht einmal 15 Jahre
dauern, bis auch im Iran ein Christ, ein Jude, ein Zoroastrier oder ein
Bahai wie selbstverständlich die Festrede in einem frei gewählten
Parlament hält.
(Beifall)
„Dies ist ein gutes Deutschland,
das beste, das wir kennen“, sagte vor kurzem der Bundespräsident. Ich
kann dem nicht widersprechen. Welchen Abschnitt der deutschen Geschichte
ich mir auch vor Augen halte, in keinem ging es freier, friedlicher und
toleranter zu als in unserer Zeit. Trotzdem flösse der Satz des
Bundespräsidenten mir selbst nicht so glatt über die Lippen. Warum ist
das so? Man könnte das Unbehagen, den Stolz auf das eigene Land
auszusprechen, als typisch deutschen Selbsthass abtun und hätte doch
genau den Grund übersehen, warum die Bundesrepublik lebens- und sogar
liebenswert geworden ist.
Denn wann und wodurch hat Deutschland,
das für seinen Militarismus schon im 19. Jahrhundert beargwöhnte und mit
der Ermordung von 6 Millionen Juden vollständig entehrt scheinende
Deutschland, wann und wodurch hat es seine Würde wiedergefunden? Wenn
ich einen einzelnen Tag, ein einzelnes Ereignis, eine einzige Geste
benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort
„Würde“ angezeigt scheint, dann war es ‑ und ich bin sicher, dass eine
Mehrheit im Bundestag, eine Mehrheit der Deutschen und erst recht eine
Mehrheit dort auf der himmlischen Tribüne mir jetzt zustimmen wird –
dann war es der Kniefall von Warschau.
(Beifall)
Das ist
noch merkwürdiger als das Paradox, mit dem das Grundgesetz beginnt, und
wohl beispiellos in der Geschichte der Völker: Dieser Staat hat Würde
durch einen Akt der Demut erlangt. Wird nicht das Heroische gewöhnlich
mit Stärke assoziiert, mit Männlichkeit und also auch physischer Kraft
und am allermeisten mit Stolz? Hier jedoch hatte einer Größe gezeigt,
indem er seinen Stolz unterdrückte und Schuld auf sich nahm, noch dazu
Schuld, für die er persönlich, als Gegner Hitlers und Exilant, am
wenigsten verantwortlich war: Hier hatte einer seine Ehre bewiesen,
indem er sich öffentlich schämte. Hier hatte einer seinen Patriotismus
so verstanden, dass er vor den Opfern Deutschlands auf die Knie ging.
Ich
neige vor Bildschirmen nicht zu Sentimentalität, und doch ging es mir
wie so vielen, als zu seinem 100. Geburtstag die Aufnahmen eines
deutschen Kanzlers wiederholt wurden, der vor dem Ehrenmal im ehemaligen
Warschauer Ghetto zurücktritt, einen Augenblick zögert und dann völlig
überraschend auf die Knie fällt - ich kann das bis heute nicht sehen,
ohne dass mir Tränen in die Augen schießen. Und das Seltsame ist: Es
sind neben allem anderen, neben der Rührung, der Erinnerung an die
Verbrechen, dem jedes Mal neuen Staunen, auch Tränen des Stolzes, des
sehr leisen und doch bestimmten Stolzes auf eine solche Bundesrepublik
Deutschland.
(Beifall)
Sie ist das Deutschland, das ich
liebe, nicht das großsprecherische, nicht das kraftmeiernde, nicht das
Stolz-ein-Deutscher-zu-sein-und-Europa-spricht-endlich-deutsch-Deutschland,
vielmehr eine Nation, die über ihre Geschichte verzweifelt, die bis hin
zur Selbstanklage mit sich ringt und hadert, zugleich am eigenen
Versagen gereift ist, die nie mehr den Prunk benötigt, ihre Verfassung
bescheiden „Grundgesetz“ nennt und dem Fremden lieber eine Spur zu
freundlich, zu arglos begegnet, als jemals wieder der
Fremdenfeindlichkeit, der Überheblichkeit zu verfallen.
Es wird
oft gesagt - und ich habe Redner das auch von diesem Pult aus sagen
hören -, dass die Deutschen endlich wieder ein normales, ein
unverkrampftes Verhältnis zu ihrer Nation haben sollten, jetzt, da der
Nationalsozialismus doch nun lange genug bewältigt sei. Ich frage mich
dann immer, was die Redner meinen: Es gab dieses normale und
unverkrampfte Verhältnis nie, auch nicht vor dem Nationalsozialismus. Es
gab einen übersteigerten, aggressiven Nationalismus, und es gab als
gegenläufige Bewegung eine deutsche Selbstkritik, ein Plädoyer für
Europa, eine Wendung ins Weltbürgertum und übrigens auch zur
Weltliteratur, die in ihrer Entschlossenheit jedenfalls im 19.
Jahrhundert einzigartig war.
"Ein guter Deutscher kann kein Nationalist sein."
Das sagte Willy Brandt in seiner Nobelpreisrede voller Selbstbewusstsein. Und weiter:
"Ein
guter Deutscher weiß, daß er sich einer europäischen Bestimmung nicht
versagen kann. Durch Europa kehrt Deutschland heim zu sich selbst und
den aufbauenden Kräften seiner Geschichte."
(Beifall)
Seit
dem 18. Jahrhundert, spätestens seit Lessing, der den Patriotismus
verachtete und als erster Deutscher das Wort „Kosmopolit“ verwendete,
stand die deutsche Kultur häufig in einem antipodischen Verhältnis zur
Nation. Goethe und Schiller, Kant und Schopenhauer, Hölderlin und
Büchner, Heine und Nietzsche, Hesse und die Brüder Mann - sie alle haben
mit Deutschland gehadert, haben sich als Weltbürger gesehen und an die
europäische Einigung geglaubt, lange bevor die Politik das Projekt
entdeckte.
Es ist diese kosmopolitische Linie deutschen Geistes,
die Willy Brandt fortführte - nicht nur mit seinem Kampf gegen den
deutschen Nationalismus und für ein vereintes Europa, ebenso in seinem
frühen Plädoyer für eine „Weltinnenpolitik“, in seinem Engagement für
die Nord-Süd-Kommission und während seines Vorsitzes der Sozialistischen
Internationale. Und es wirft dann vielleicht doch kein so günstiges
Licht auf das heutige Deutschland, wenn bei den Fernsehduellen vor der
Bundestagswahl nach der Außenpolitik so gut wie nicht mehr gefragt wird
oder ein Verfassungsorgan die Bedeutung der anstehenden Europawahl
bagatellisiert,
(Beifall)
wenn die Entwicklungshilfe eines
wirtschaftlich so starken Landes noch unter dem Durchschnitt der
OECD-Staaten liegt - oder Deutschland von 9 Millionen Syrern, die im
Bürgerkrieg ihre Heimat verloren haben, gerade mal 10 000 aufnimmt.
(Beifall)
Schließlich bedeutet das Engagement
in der Welt, für das Willy Brandt beispielhaft steht, im Umkehrschluss auch mehr Offenheit
für
die Welt. Wir können das Grundgesetz nicht feiern, ohne an die
Verstümmelungen zu erinnern, die ihm hier und dort zugefügt worden sind.
Auch im Vergleich mit den Verfassungen anderer Länder wurde der
Wortlaut ungewöhnlich häufig verändert, und es gibt nur wenige
Eingriffe, die dem Text gutgetan haben. Was der Parlamentarische Rat
bewusst im Allgemeinen und Übergeordneten beließ, haben der Bundestag
und der Bundesrat bisweilen mit detaillierten Regelungen befrachtet.
Nicht nur sprachlich am schwersten wiegt die Entstellung des Artikels
16.
(Beifall)
Ausgerechnet das Grundgesetz, in dem
Deutschland seine Offenheit auf ewig festgeschrieben zu haben schien,
sperrt heute diejenigen aus, die auf unsere Offenheit am dringlichsten
angewiesen sind: die politisch Verfolgten. Ein wundervoll bündiger
Satz ‑ „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ ‑ geriet 1993 zu einer
monströsen Verordnung aus 275 Wörtern, die wüst aufeinandergestapelt und
fest ineinander verschachtelt wurden, nur um eines zu verbergen: dass
Deutschland das Asyl als Grundrecht praktisch abgeschafft hat.
(Beifall)
Muss
man tatsächlich daran erinnern, dass auch Willy Brandt, bei dessen
Nennung viele von Ihnen quer durch die Reihen beifällig genickt haben,
ein Flüchtling war, ein Asylant?
Auch heute gibt es Menschen,
viele Menschen, die auf die Offenheit anderer, demokratischer Länder
existentiell angewiesen sind. Und Edward Snowden, dem wir für die
Wahrung unserer Grundrechte viel verdanken, ist einer von ihnen.
(Beifall)
Andere
ertrinken im Mittelmeer ‑ jährlich mehrere Tausend ‑, also mit sehr
großer Wahrscheinlichkeit auch während unserer Feststunde. Deutschland
muss nicht alle Mühseligen und Beladenen der Welt aufnehmen; aber es hat
genügend Ressourcen, politisch Verfolgte zu schützen, statt die
Verantwortung auf die sogenannten Drittstaaten abzuwälzen.
(Beifall)
Und
es sollte aus wohlverstandenem Eigeninteresse anderen Menschen eine
faire Chance geben, sich um die Einwanderung legal zu bewerben, damit
sie nicht auf das Asylrecht zurückgreifen müssen.
(Beifall)
Denn
von einem einheitlichen europäischen Flüchtlingsrecht, mit dem 1993 die
Reform begründet wurde, kann auch zwei Jahrzehnte später keine Rede
sein, und schon sprachlich schmerzt der Missbrauch, der mit dem
Grundgesetz getrieben wird. Dem Recht auf Asyl wurde sein Inhalt, dem
Artikel 16 seine Würde genommen.
(Beifall)
Möge das
Grundgesetz spätestens bis zum 70. Jahrestag seiner Verkündung von
diesem hässlichen, herzlosen Fleck gereinigt sein, verehrte Abgeordnete.
(Beifall)
Dies
ist ein gutes Deutschland, das beste, das wir kennen. Statt sich zu
verschließen, darf es stolz darauf sein, dass es so anziehend geworden
ist.
Meine Eltern sind nicht aus Iran geflohen. Aber nach dem
Putsch gegen die demokratische Regierung Mossadegh 1953 waren sie wie
viele Iraner ihrer Generation froh, in einem freieren, gerechteren Land
studieren zu können. Nach dem Studium haben sie Arbeit gefunden. Sie
haben Kinder, Kindeskinder und sogar Urenkel aufwachsen sehen. Sie sind
alt geworden in Deutschland. Diese ganze große Familie ‑ 26 Menschen
inzwischen, wenn ich nur die direkten Nachkommen und Angeheirateten
zähle ‑ ist glücklich geworden in diesem Land. Und nicht nur wir: Viele
Millionen Menschen sind seit dem Zweiten Weltkrieg in die Bundesrepublik
eingewandert, die Vertriebenen und Aussiedler berücksichtigt mehr als
die Hälfte der heutigen Bevölkerung. Das ist auch im internationalen
Vergleich eine gewaltige demografische Veränderung, die das Land
innerhalb einer einzigen Generation zu bewältigen hatte, und ich meine,
dass Deutschland sie insgesamt gut bewältigt hat.
Es gibt, gerade
in den Ballungsräumen, kulturelle, religiöse und vor allem soziale
Konflikte. Es gibt Ressentiments bei Deutschen, und es gibt
Ressentiments bei denen, die nicht nur deutsch sind. Leider gibt es auch
Gewalt und sogar Terror und Mord. Aber aufs Ganze betrachtet geht es in
Deutschland ausgesprochen friedlich, immer noch verhältnismäßig gerecht
und sehr viel toleranter zu als noch in den 90er-Jahren. Ohne es
eigentlich zu merken, hat die Bundesrepublik ‑ und da spreche ich noch
gar nicht von der Wiedervereinigung ‑ eine grandiose
Integrationsleistung vollbracht.
Vielleicht hat es hier und dort
an Anerkennung gefehlt, einer deutlichen, öffentlichen Geste besonders
der Generation meiner Eltern, der Gastarbeitergeneration gegenüber, wie
viel sie für Deutschland geleistet hat.
(Beifall)
Doch
umgekehrt haben vielleicht auch die Einwanderer nicht immer genügend
deutlich gemacht, wie sehr sie die Freiheit schätzen, an der sie in
Deutschland teilhaben,
(Beifall)
den sozialen Ausgleich, die
beruflichen Chancen, kostenlose Schulen und Universitäten, übrigens
auch ein hervorragendes Gesundheitssystem, Rechtsstaatlichkeit, eine
bisweilen quälende und doch so wertvolle Meinungsfreiheit, die freie
Ausübung der Religion.
So möchte ich zum Schluss meiner Rede
tatsächlich einmal in Stellvertretung sprechen, und im Namen von - nein,
nicht im Namen von allen Einwanderern, nicht im Namen von Djamaa Isu,
der sich fast auf den Tag genau vor einem Jahr im Erstaufnahmelager
Eisenhüttenstadt mit einem Gürtel erhängte aus Angst, ohne Prüfung
seines Asylantrages in ein sogenanntes Drittland abgeschoben zu werden,
nicht im Namen von Mehmet Kubasik und den anderen Opfern des
Nationalsozialistischen Untergrunds, die von den ermittelnden Behörden
und den größten Zeitungen des Landes über Jahre als Kriminelle
verleumdet wurden, nicht im Namen auch nur eines jüdischen Einwanderers
oder Rückkehrers, der die Ermordung beinahe seines ganzen Volkes niemals
für bewältigt halten kann -, aber doch im Namen von vielen, von
Millionen Menschen, im Namen der Gastarbeiter, die längst keine Gäste
mehr sind, im Namen ihrer Kinder und Kindeskinder, die wie
selbstverständlich mit zwei Kulturen und endlich auch zwei Pässen
aufwachsen, im Namen meiner Schriftstellerkollegen, denen die deutsche
Sprache ebenfalls ein Geschenk ist, im Namen der Fußballer, die in
Brasilien alles für Deutschland geben werden, auch wenn sie die
Nationalhymne nicht singen,
(Beifall)
im Namen auch der
weniger Erfolgreichen, der Hilfsbedürftigen und sogar der Straffälligen,
die gleichwohl - genauso wie die Özils und Podolskis - zu Deutschland
gehören, im Namen zumal der Muslime, die in Deutschland Rechte genießen,
die zu unserer Beschämung Christen in vielen islamischen Ländern heute
verwehrt sind, im Namen also auch meiner frommen Eltern und einer
inzwischen 26-köpfigen Einwandererfamilie möchte ich sagen und mich
dabei auch wenigstens symbolisch verbeugen: Danke, Deutschland.
(Langanhaltender Beifall - Die Anwesenden erheben sich)
Quelle:
Deutscher Bundestag