NSU - Kein Schlussstrich

Son Söz Söylenmedi - Das letzte Wort wurde nicht gesprochen!



Lektürempfehlung
Das aktuelle inamo-Heft ist erschienen* und sei Allen wärmstens ans Herz gelegt. Die fabelhafte Esther Dischereit und der unübertroffene Norbert Mattes haben für die Redaktion in akribischer Arbeit dutzende Dokumente, Texte, Reden und  Reaktionen auf das unbefriedigende Urteil aus München zusammengetragen und dieses unersetzliche Kompendium zum NSU-Komplex komponiert.
Als Einstieg und Kostprobe sei Euch das Editorial aus der Feder von Esther Dischereit empfohlen.











EDITORIAL

von Esther Dischereit

Für das Schwerpunktthema Institutioneller Rassismus und NSU (Nationalsozialistischer Untergrund) wurden überwiegend Dokumente zusammengetragen, die entweder nicht veröffentlicht oder bislang nur gekürzt zur Verfügung standen, die verstreut sein und deren Auffinden schwierig sein würde. Es ist eine Arbeit, die mithelfen soll, dass die Spuren des Geschehenen nicht verschwinden und die Stimmen der Zeugen bewahrt werden. Eine Arbeit, die unvollständig bleiben mußte.

Wir bedanken uns bei Abdulkerim Şimşek, Yvonne Boulgarides, Familie Yozgat, Melek Bektaş, Ibrahim Arslan, Faruk Arslan, Osman Taşköprü, bei den Vertreter*innen der Nebenklage Seda Başay-Yıldız, Yavuz Narin, Serkan Altan, Dr. Mehmet Daimagüler, bei der Initiative 6. April Kassel, Forensic Architecture, IG Köln Keupstrasse, dem Tribunal „NSU-Komplex auflösen“, dem Türkischen Bund Berlin-Brandenburg und zahlreichen weiteren Gruppen und Einzelpersonen, die zu dieser Ausgabe beigetragen haben.

Trotz des Aufklärungsversprechens der Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde und wird die Aufklärung behindert, und zwar im wesentlichen wegen des Blockadeverhaltens von Ermittlungs-, Justiz- und Verfassungsschutzbehörden. Der Anspruch der Hinterbliebenen der Opfer und der Überlebenden auf Wahrheit bleibt unerfüllt, während den Ansprüchen von Behörden Vorrang zugestanden wurde. Das Strafverfahren gegen Beate Z. u. a. wegen Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung (NSU) beim Oberlandesgericht brachte dies zum Ausdruck, insbesondere weil sich das Gericht einer Ermittlung des Netzwerks, in dem sich die Mörder bewegt haben und der Untersuchung der Verbindung der Behörden mit diesem Komplex trotz zahlreicher Einwendungen und Hinweise durch die Vertreter*innen der Nebenklage verweigerte.

Zahlreiche Akteure der Zivilgesellschaft haben das vorausgesehen, darauf hingewiesen und institutionellen Rassismus der Behörden kritisiert. So ist beispielsweise deutlich, dass die Betroffenen selbst noch vor Öffentlichwerden des NSU Hinweise auf rechtsterroristische Täter gaben: „Kein 10. Opfer!“. Auch der „Schattenbericht“ an den Antirassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen CERD mahnte dringend das Aufklärungsversprechen an und dokumentierte darüberhinaus, dass ein breites Bündnis zur Bekämpfung des Rassismus zustande kommen kann. CERD folgte diesen Ausführungen in wesentlichen Punkten bereits im Jahr 2015.

Mit dem NSU Tribunal, das im Jahre 2017 in Köln stattfand, wurde es möglich, die Stimmen der Betroffenen in einer beeindruckend breiten Öffentlichkeit zu hören. Es wurde auch deutlich, dass die Morde in einer Reihe vorausgegangener Taten gegen Einwander*innen, insbesondere gegen Menschen türkischer Herkunft, standen, wie die mörderischen Anschläge von Mölln, Solingen und an anderen Orten. Wie sie auch in Verbindung zu sehen sind mit der Aktualiät von rassistischen Anschlägen, die darauf gerichtet sind, geflüchtete Menschen zu ermorden. Der gewalttätige Vollzug eines politisch erklärten Willens, in dem die um Asyl nachsuchenden Menschen zu Ballast an den Grenzen der Staaten Europas erklärt werden.

Betroffene und Opfer dieser Verbrechen fanden sich mit den vom NSU Betroffenen zusammen. Ibrahim und Faruk Arslan, Überlebende des Anschlags von Mölln, haben in Köln gesprochen, Melek Bektaş, deren Sohn in Neukölln-Berlin getötet wurde, Break the Silence Die Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh und viele andere. Aus den Reihen derjenigen, die gesprochen und zugehört haben, hat sich ein Netzwerk gebildet, das gegenseitige Unterstützung organisiert. Die Geschichte von Menschen ohne Papiere und Menschen, die geflüchtet waren, hatte das NSU Tribunal ebenfalls mitgetragen. Das Tribunal führte nicht nur Anklage gegen die Ermittlungs- und anderen Behörden, sondern verstand sich auch als Raum des Sprechens für Betroffene von rassistischer Gewalt, ein Raum der Klage. Bundesweit war eine antirassistische Sammlungsbewegung entstanden, die sich weiterhin miteinander verständigt und mit der sich Initiativen und Einzelne vernetzen.

Das antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum e.V. (apabiz) in Berlin und die Antifaschistische Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München e. V. (a.i.d.a.) , beide Organisationen, die Zielgruppe von Observationen durch den Verfassungsschutz unter Linksextremismusverdacht gewesen waren, wurden unentbehrliche Partner, wenn es um Recherche über die Zusammenhänge der Rechtsextremisten geht. Zusammen mit anderen gründeten sie das unabhängige Portal NSU-Watch. Einen unschätzbaren Beitrag leisteten auch jene Menschen, die als Whistleblower entscheidende Hinweise gaben und ihrem Gewissen folgten, ohne Rücksicht darauf, ob sie den Corpsgeist der Beamten verletzen. Die Arnold-Freymuth-Gesellschaft würdigte den Kriminalhauptkommissar Mario Melzer und richtete einen Rechtshilfe-Fonds ein. Ein Beitrag von Chana Dischereit beschäftigt sich mit der rechtlichen Stellung der Whistleblower in Deutschland.

Die Arbeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse der Länder und des Deutschen Bundestags hat teils mehr ans Licht gebracht als den Verfassungsschutz- und Polizeibehörden wie auch den Staatsanwaltschaften lieb sein kann. Dorothea Marx vertritt in ihrem Beitrag das Gebot demokratischen Handelns als substantiell und nicht verhandelbar. Der Thüringische Landtag hat eine Mit-Verantwortung erkannt und den Opfern Entschädigungsleistungen zuerkannt, wenngleich es sich nur um eine symbolische Geste handeln kann. Der Beschluß liegt vor. Unabhängige Aufklärer*innen, Journalist*innen und Vertreter*innen der Nebenklage wie Dirk Laabs / Stefan Aust, Heike Kleffner, Hajo Funke, Mehmet Daimagüler und Herausgeberin und Autorin Antonia von der Behrens und weitere haben in ihren Publikationen Fragen gestellt, deren Beantwortung nach wie vor aussteht. Die Künstlerin beate maria wörz intervenierte mit Fragen, die im öffentlichen Raum auf Plakatwänden zu sehen waren, im Theater wurde Urteile von Tunay Önder, Christine Umpfenbach, Azar Mortazavi (Hg.) aufgeführt, aus dem Bereich der Literatur wird Esther Dischereits Blumen für Otello. Über die Verbrechen von Jena von Susan Arndt vorgestellt, der Dokumentarfilm von Andreas Maus Der Kuaför aus der Keupstrasse von Irit Neidhart. Weitere wichtige Arbeiten wie das Theaterstück Die Lücke von Nuran Calis würden ebenfalls vorgestellt gehören. Andere Arbeiten wie das Künstlerbuch mit fotografischen Arbeiten von Paula Markert sind in progress und werden demnächst erscheinen.

Die Bewegung zur Aufklärung der Taten des NSU thematisierte die mangelnde Verpflichtung von Polizei und Verfassungsschutz, auch in die Richtung eines rechtsextremistisch begründeten Motivs zu ermitteln und machte zahlreiche rassistische Handlungsweisen der Behörden gegenüber den betroffenen Familien öffentlich. Mit dem Plädoyer von Seda Başay-Yıldız liegt hierüber ein sehr bewegendes Zeugnis vor.

Auch sollte die Diskussion an jenen Orten sichtbar gemacht werden, an denen sich im Zusammenhang der rassistischen Taten Gruppen gebildet haben, die für Aufklärung und Gedenken kämpfen und die die Wahrheit wissen wollen. Hierfür steht stellvertretend die Konzentration auf die Orte Kassel, Köln, Hamburg, Mölln, Dessau.

In den Initiativen versammeln sich Menschen, die die Betroffenen, die Rechte und Anerkennung als gleichberechtigte Bürger*innen einfordern, unterstützen. Während noch Jahre nach dem Bombenanschlag Bedrückung, Angst und Zersetzung die Keupstrasse in Köln beherrschten, veröffentlicht die Interessengemeinschaft der Gewerbetreibenden der Keupstrasse Köln (IG Keupstrasse) umlängst das Statement: „Wir, die Musliminnen und Muslime der Keupstraße, gehören schon lange zu Deutschland, auch wenn das viele nicht wahrhaben wollen.“

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inamo 94, Sommer 2018, 114 Seiten, 7 € zzgl. Versand (im Dutzend günstiger)
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