Sotschi, mon amour! Oder: Der blutige Tanz auf Massengräbern



Am 7. Februar wurden die Olympischen Winterspiele 2014 in Russland eröffnet. In Sotschi – einem Ort, den bisher kaum jemand auf dem Planeten kannte. Bis auf die Tscherkessen. „Who the fuck sind die Tscherkessen?“ werden viele nun fragen. Zu recht. Denn das Volk der Tscherkessen ist ein vergessenes. Vergessen ist vor allem auch der Völkermord an ihnen. Und dass Putin Sotschi der Weltöffentlichkeit als Teil Russlands präsentieren kann, liegt an den ethnischen Säuberungen, die vor 250 Jahren begangen, und im Mai 1864 ihren blutigen Höhepunkt fanden.

von Hikmet Kayahan*

Die Tscherkessen sind eines der ältesten Völker Europas, seit Jahrtausenden leben sie im Nordwesten des Kaukasusgebirges. Sotschi war ihre letzte Hauptstadt. 50 Jahre lang führte das Zarenreich einen Vernichtungskrieg gegen die Völker des Kaukasus. Weil die Zaren an das Meer wollten, und die Tscherkessen ihrem Expandieren und ihrem Imperialismus im Weg standen, weil sie sich nicht unterwerfen wollten, weil sie nicht Teil des Zarenreiches werden wollten. Über 1,5 Millionen Tscherkessen wurden bei diesem Krieg getötet. Und im Mai 1848, vor genau 150 Jahren endete dort die letzte Schlacht der Tscherkessen gegen das Zarenreich; mit einem Massaker. Krasnaja Poljana (wo die Schnee-, Bob- und Rodelwettbewerbe stattfinden) bedeutet „Rote Lichtung“; weil hier die Erde rot vom Blut der ermordeten Tscherkessen war.

Und nach dieser Unterwerfung begann die Vertreibung. Ca. 1.000.000 Tscherkessen wurden über das Schwarze Meer ins Osmanische Reich zwangsverschifft. Dabei kamen nach Schätzungen über 100.000 Vertriebene um. In das Gebiet der Tscherkessen wurden christlich-russische Bauern aus dem Landesinneren des Russischen Reiches angesiedelt. Die Nachkommen derjenigen, die die Massaker, Deportationen und Vertreibungen überlebten, warten bis heute auf eine Anerkennung ihres Schicksals und die Aufarbeitung des Völkermords.

Ich gehöre zu diesen Nachkommen. Irgendwo in und um Sotschi liegen auch die Überreste meiner Vorfahren. Meine Familie hatte Glück: Wir überlebten den hundertjährigen Krieg; wir überlebten die Massaker; wir überlebten die Vertreibung und die Überfahrt ins Osmanische Reich. Hunderttausende hatten dieses Glück nicht. Jetzt zu sehen wie die Welt auf den Massengräbern meiner Vorfahren jubelt, lacht, spielt und tanzt ist wie wenn Wut und Trauer sich zu einem schweren Stein verklumpen und ins Herz legen. Und das große Schweigen, Verschweigen und Leugnen ist wie wenn man uns die Luft zum Atmen nimmt. Am ehesten verstehen das meine armenischen FreundInnen aus der Türkei, die bis heute um die Anerkennung des Leides ihres Volkes kämpfen müssen. Meinen österreichischen und deutschen FreundInnen zu erklären, wie sich das anfühlt, ist schwer. Vielleicht noch so: Stell dir vor, der Staat würde verbieten über den Holocaust zu sprechen, würde ihn leugnen. In Auschwitz würde man ein Stadion bauen und fröhliche Spiele veranstalten. Und alle, die aufzeigen und meinen „Ja aber, da war doch noch etwas anderes…“, würde man ins Gefängnis stecken.

Natürlich, Putin ist nicht dafür verantwortlich, was das Zarenreich damals angerichtet hat. Wie die heutige Türkei nicht dafür verantwortlich ist, was den Armeniern angetan wurde. Oder die heutigen Deutschen und Österreicher nicht dafür verantwortlich sind, was den Juden angetan wurde. Aber er, Putin, und die Türkei, Deutschland, und Österreich der Gegenwart, sind sehr wohl dafür verantwortlich, wie mit Geschichte, wie mit historischem Unrecht umgegangen wird. Ob mit Leugnen und Verschweigen, oder mit Anerkennung, Respekt und Aufarbeitung.

Putin hat im Fall der Tscherkessen den Weg des Leugnens und Verschweigens gewählt. Die Massengräber, die beim Bau der olympischen Anlagen gefunden wurden, durften nicht an die Öffentlichkeit; die Überreste wurden in Nacht-Und-Nebel-Aktionen „entsorgt“. Eine Gedenktafel, die daran erinnern sollte, dass Sotschi Hauptsiedlungsgebiet der Tscherkessen war, durfte nicht angebracht werden. Bei der Eröffnungsshow nicht eine kleine Geste oder Symbolik in Richtung Tscherkessen. Man stelle sich vor, die olympische Flamme wäre von zwei Kindern in tscherkessischer Tracht entzündet worden! Welch stille, mächtige Symbolik, welche Chance für Putin Brücken zu bauen… Die Politik folgt aber anderen Regeln, statt Versöhnung: “Eine Verschwörung des Westens, um Russland zu diskreditieren”, heißt es offiziell.

Jetzt kann man natürlich sagen, überall auf der Welt wurde irgendein Unrecht begangen; so gesehen darf man ja nirgends mehr irgendwas machen. Ja, aber darum geht es nicht. Es geht darum wie man mit Geschichte umgeht. Wie man es anders machen kann, wurde 2010 in Vancouver gezeigt, als die Ureinwohner in die Eröffnungszeremonie mit einbezogen wurden. Oder 2000 bei den Sommerspielen in Australien, wo die Aborigines dabei waren. – In Sotschi: Kein Wort über die Tscherkessen, keine Bilder, keine Sichtbarkeit. Nur Schweigen.

Aus dieser Perspektive sind diese Olympischen Winterspiele eine Schande. Nicht nur für Russland, sondern für die ganze Welt, da alle Schweigen und Lächeln. Zwar wurde die Menschenrechtslage im Allgemeinen und die besondere Situationen von Schwulen, Lesben und TransGender-Personen zu Recht und heftig thematisiert und zum Boykott aufgerufen. Aber leider gelang es nicht, den Völkermord an den Tscherkessen auch in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit zu rücken. Aber was hätte es geändert, wenn es gelungen wäre: der Rubel rollt, das scheint auszureichen. Niemand mag die wirtschaftlichen Kontakte stören. Die neuen Züge, die nun in Sotschi fahren, wurden z.B. von Siemens geliefert. Und überhaupt, Boykott sei der falsche Weg. Man sollte eher die Gelegenheit nutzen und die Probleme ansprechen, ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken. – Ich kann es nicht mehr hören und lesen, diese fadenscheinige Argumentation. Auch bei Peking wurde so argumentiert. Und, hat sich an der Menschenrechtlage in China was verändert? Beim Eurovision Song Contests in Aserbaidschan wurde einem Diktator die Möglichkeit gegeben, sich als Demokrat zu präsentieren. An der Menschenrechtslage hat sich nichts geändert.

Tatsächlich haben Boykottaufrufe wenig Sinn, wenn die Maschinerie erst mal ins Laufen gekommen ist. Wir müssen früher ansetzen. Die Bewerbungskriterien hinterfragen und überarbeiten. Wir müssen unsere Erwartungshaltung überdenken: Was sind wir bereit für schöne, spektakuläre Veranstaltungen hinzunehmen? Und hier beginnt das Dilemma, denn in einer funktionierenden Demokratie ist es unmöglich 40 Milliarden dafür auszugeben, innerhalb von Jahren ohne Rücksicht auf Geschichte, Umwelt und Menschen eine neue Infrastruktur aus dem Boden zu stampfen. In funktionierenden Demokratien können die BürgerInnen aufstehen und NEIN! sagen. Wie vor kurzem in Bayern, als die MünchnerInnen sich gegen Olympia 2022 entschieden. In funktionierenden Demokratien ist es nicht möglich, durch Sklavenarbeit Fußballstadien in die Wüste zu setzen. Wie gerade in Katar. Oder Stadien in den Urwald zu bauen, wenn die Menschen in einem Land sich nicht mal die Tickets für die öffentlichen Verkehrsmittel leisten können. Wie gerade in Brasilien. Deswegen nehmen wir stillschweigend jede Umweltzerstörung, jede Menschrechtsverletzung, jeden Völkermord hin, weil scheinbar nur Diktatoren in der Lage sind, unseren Durst nach Spektakel zu stillen. Und auch deswegen sind diese Olympischen Winterspiele in Sotschi nicht nur für Russland, sondern für die ganze Welt eine Schande.

Ich, als Tscherkesse aus der Türkei mit Sozialisation in Deutschland und Lebensmittelpunkt in Wien, als Nachfahre der Überlebenden eines vergessenen, verschwiegenen und geleugneten Völkermordes, werde Sotschi 2014 boykottieren. In dem ich keine Sendungen schaue, die Produkte von Unternehmen, die diese Schand- und Blutspiele sponsern nicht kaufe. In dem ich immer wieder meine Stimme erhebe und sage, dass auf den Massengräbern meiner Vorfahren getanzt und gefeiert wird. Und auch versuche die SportlerInnen immer wieder daran zu erinnern, dass sie nicht nur auf Schnee und Eis laufen, sondern auch im Blut meiner Vorfahren.

*Hikmet Kayahan, Jahrgang 1966, Tscherkesse aus der Türkei mit Sozialisation in Deutschland und Lebensmittelpunkt in Wien; Germanist und Pädagoge, langjährige Erfahrung in der Jugend- und Erwachsenenbildung, Integrations- und Kommunikationsexperte, Trainer für interkulturelle Kompetenzen und Konfliktmanagement. Hier findet man ihn auf Facebook.

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Dieser Artikel erschien zuerst bei unseren Kollegen von Shabka. Yalla, lest Euch hin!

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