heute 2011

today is the shadow of tomorrow
today is the present future of yesterday
 yesterday is the shadow of today
-Madvillain-

Unruhig wälzte er sich in seinem Bett herum; es mochte elf oder zwölf Uhr sein und undurchsichtige, kurzlebige Traumgesichter, die er nicht deuten konnte, kündigten den Beginn eines weiteren Tages an. Er fröstelte und unwillig, gequält schlug er seine Augen auf. Sein Kopf schmerzte, der Dunst der Träume hing noch über seinem Kopf. Resigniert setzte er sich auf, überlegte kurz, welcher Tag heute sei, gab das Unternehmen aber rasch wieder auf. Es machte keinen Unterschied; er wollte sich nichts vormachen. Lange schon machte er sich nicht mehr die Mühe.
 
Es wäre doch nur eine Fassade gewesen, eine Fassade, die das Unwiderrufliche doch nicht zu verschleiern vermochte. Zumindest vor sich selbst gestand er ein, wie wenig Sinn es machte, an der allgemeinen Maskerade teilzuhaben.
 
Er rettete sich in die Dusche, wo er versuchte, seinem toten Geist ein bisschen Leben einzuhauchen – doch vergebens. Das heiße Wasser betäubte ihn nur noch mehr, hüllte ihn ein in einen Schleier der Unwirklichkeit, ließ ihn nichts mehr spüren als das Prasseln der Wassertropfen auf seiner nackten Haut. Nach einer langen Weile konnte er sich dazu überwinden, den Hahn abzudrehen und zurück in diesen Tag zu gehen. 

Während er sich anzog, überlegte er widerwillig, was er tun könne, um das lästige Hungergefühl loszuwerden, das ihn beherrschte, seit er in den Tag getreten war. Nichts gab es, was ihn mehr Überwindung kostete, als das Konservenfutter in sich reinzuschaufeln. Doch was blieb ihm anderes? Er hatte nicht nur vergessen, wie es sich anfühlte, ein Mensch zu sein und als solcher zu atmen und zu leben, nein! Selbst die Befriedigung des elementarsten aller Bedürfnisse hatte er bereitwillig und ohne Zögern aufgegeben, hatte es auf die Liste derjenigen Dinge setzen lassen, um die er sich nicht mehr kümmern brauchte, die andere für ihn erledigten, Experten, die alles besser wussten als er. Diese Liste war lang und er konnte sich nicht mehr entsinnen, wie alles begonnen hatte. Auch das Denken hatte man ihm abgenommen. Auch darin hatte er sich gefügt.

Er aß eine Pizza, die er in der Kühltruhe gefunden hatte, doppelt verpackt in Plastikfolie und Karton. Gleichgültig hatte er darauf herumgekaut, bis sein Magen aufhörte, diese störenden Signale an sein Gehirn zu senden.

Nun begann der gefährliche Teil des Tages, der Teil, vor dem er sich am meisten fürchtete, denn es war der längste Einzelabschnitt, um genau zu sein, ging es um den ganzen Rest. Während außerhalb seiner vier Wände die Experten damit beschäftigt waren, sich neue Erleichterungen für die Übrigen zu überlegen, setzte er sich in seinen Sessel und sog den dicken, schweren Rauch des Joints ein, den er nach der Nahrungsmitteleinnahme gedreht hatte. Mechanisch führte er ihn immer wieder an seine Lippen, rauchte den Joint bis auf den Filter hinunter und starrte dabei ins Leere des Zimmers. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten; zufrieden lehnte er sich in seinem Sessel zurück, starrte an die Wand und ließ seinen Gedanken ihren Lauf. Doch selbst diese schienen sich angesichts der Monotonie seines Alltags zu langweilen, kehrten immer wieder an den Anfang zurück, nicht fähig auszubrechen, zu träge, um das bekannte Gelände zu verlasen. Doch zumindest waren sie in Bewegung, was ihn ein wenig tröstete. Bevor die Wirkung nachzulassen begann, drehte er einen weiteren Joint, diesmal noch besser gewürzt als der erste. Langsam wurden seine Bewegungen angestrengter und er wollte sich die Mühe ersparen, in einer Stunde oder so einen weiteren Joint zu drehen. In der Zwischenzeit hatte er überlegt, ein bisschen Musik zu hören, doch auch diese Überlegung hatte er schnell wieder aufgegeben – das Gedudel im Radio war ihm unerträglich und seine Musikkonserven hatte er bis zum Überdruss gehört.

Er zündete sich den zweiten Joint an und überlegte, was er mit dem restlichen Tag anfangen sollte. Vielleicht sollte er zu seiner Nachbarin rübergehen, er hatte Lust zu vögeln. Nicht, dass er in sie verliebt war; romantische Gefühle hegte er seit langem nicht mehr. Auch dies hatten ihm die Experten abgenommen, besser: abgewöhnt. Doch auch diesen Gedanken verwarf er rasch wieder, zu träge hatte ihn das Kiffen schon gemacht und überdies wäre es nur ein kurzes Aufflackern gewesen, das ihn nur umso heftiger in die Dunkelheit seines Gewölbes zurückgeworfen hätte. 

Stumm saß er da und rauchte seinen dritten Joint. Es dämmerte bereits. Zu dieser Jahreszeit waren die Tage kurz, was ihm ein wenig Linderung und Trost verschaffte. Doch plötzlich geschah etwas Unerwartetes. Das Klingeln des Telefons zerriss die Stille des Raumes. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal. Er überlegte, ob er rangehen sollte, ja es versetzte ihn geradezu in Panik. Was, wenn es jemand war, der einfach nur plaudern wollte, nichts Bestimmtes im Sinn hatte. Schon die Vorstellung daran ließ ihn vor Ekel erschaudern. Plaudern! Worüber, in Gottes Namen, sollte er schon reden?! Das Klingeln des Telefons klang jetzt schon fast verzweifelt, ein letztes Aufbäumen, Insistieren gegen die Ignoranz bevor es seufzend erstarb. Himmlischer Frieden! Noch einmal war er davongekommen, entwischt, war befreit vom Zwang des Handelns und Betrügens, des falschen Lächelns und Gaukelns. Langsam beruhige er sich wieder, sein Herz fand zu seinem gewohnten Rhythmus zurück und seine Hände zum Haschisch. Der vierte Joint war eine Herausforderung. Er war schon ziemlich breit und seine Feinmotorik hatte stark nachgelassen. Trotz aller Erschwernisse war er zufrieden mit dem Ergebnis, zündete ihn an und lehnte sich erneut in seinen Sessel zurück.

Mittlerweile hatte er das Licht anschalten müssen – die Nacht war über ihn hereingebrochen. Ein leichter Kopfschmerz stellte sich bei ihm ein – er hatte das Trinken wieder Mal vernachlässigt. Doch das war nicht weiter schlimm, befand er sich doch jetzt in einem Zustand, wo ihm selbst die altbekannten Gedanken schwerfällig und träge vor sein inneres Auge traten. Eine Art Delirium hatte sich seiner bemächtigt, den Dunstschleier der Träume ersetzt durch den Schleier der wachen Bewusstlosigkeit, in der alles zu einem einzigen, undurchsichtigen Brei verschwamm, in dem alles seine Konturen verlor, unscharf wurde, ihm nur noch das Lauschen auf sein Herzschlag erlaubte, welches ihn unmissverständlich daran erinnerte, dass er noch am Leben war.

1 Kommentar:

  1. herr kukielka, dieser text hat das potential das gemüt des lesenden durchaus unangenehm zu belasten. erstaunt bin ich darüber, dass ich trotzdem an vielen stellen immer wieder herzhaft auflachen konnte. sie schaffen es, zum leiden und zum lachen gleichzeitig zu erregen.

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