"Eine Anklage gegen ihre Urteile" - Zum NSU-Tribunal

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Anlässlich des Gesprächs an den Münchner Kammerspielen kommenden Montag über das bevorstehende NSU-Tribunal in Köln sei hiermit ein wunderbarer Text von Massimo Perinelli zur Einstimmung, Einführung, Reflexion und Mobilisierung wärmstens empfohlen. 





Eine Anklage gegen ihre Urteile

Massimo Perinelli*


Als
Mehmet Kubaşık und kurz danach Halit Yozgat am 4. und 6. April 2006 erschossen wurden, demonstrierten mehrere tausend fast ausschließlich türkischstämmige Menschen in Kassel für ein Ende der Mordserie. Dabei adressierten sie unter dem Motto »Kein 10. Opfer« den Staat und appellierten an dessen Innenbehörden, ihr Herz gegenüber der Trauer der Migrant_innen zu öffnen und endlich die Verantwortlichen dieser neunfachen Mordserie festzunehmen. Mehrere tausend Menschen meinten also zu wissen, dass der Staat und seine Organe, die ja offiziell behaupteten, unter Hochdruck zu ermitteln, ganz einfach, wenn sie nur wollten, den Terror gegen Nichtdeutsche stoppen könnten. Sie wussten es, weil sie aus ihrer Geschichte heraus verstanden haben, wie Rassismus funktioniert, weil sie sein Muster erkannten, als sie mit ihm konfrontiert wurden. Lautstark widersprachen sie den schreiend stummen Urteilen des Rassismus. Der tausendfache Aufschrei wurde jedoch weitgehend totgeschwiegen, bis auf wenige Presseartikel nahm niemand Notiz davon. 


Immerhin, nach dem ›ungebührlichen öffentlichen Auftritt dieser Türken‹, die den uns heute bekannten Zusammenhang von Staat und NSU-Mordserie bereits vor zehn Jahren öffentlich aussprachen, endete das rassistische Morden dieser Zelle und wurde bis zu ihrer Selbstenttarnung 2011 auch nicht mehr aufgenommen. Der Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter und der Mordanschlag auf ihren Kollegen Martin A. im April 2007 folgte einer anderen und bis heute unverstandenen Motivation. 

Die institutionellen Angriffe auf die migrantischen Lebenswelten gingen indes nach 2006 ungebrochen weiter.

Als selbst leitende Ermittler 2006 davon ausgingen, dass der oder die Täter ›Türkenhasser‹ sein müssten, gab es in der Soko Bosporus einen riesigen Aufschrei, in dessen Folge sich die Polizeiführung vollständig aus der Logik professioneller Verbrechensermittlung verabschiedete. In einer schleunigst in Auftrag gegebenen gegensätzlichen operativen Fallanalyse orakelte man von höchster Stelle fortan von einer ›archaischen Norm- und Wertestruktur‹, die der deutschen Kultur fremd sei, weswegen die Täter ›im ost- oder südosteuropäischen Raum‹ zu verorten seien. Ein Urteil gegen alle Indizien und Argumente, gegen jede Logik und Professionalität. Es durfte nicht sein, was nicht sein darf, und so schloss sich auch die Presse erneut diesem Urteil an.

Dieser strukturelle Rassismus erfüllte seinen Zweck: Die Stimmen der Familienangehörigen der Mordopfer verstummten im Laufe der späten 2000er Jahre. 

Die behördlich exekutierte und medial flankierte Opfer-Täter-Umkehr trug Früchte. Man misstraute allmählich seiner eigenen Gewissheit. Familien misstrauten Angehörigen, man misstraute Nachbar_innen, stellte schließlich das Sprechen über das Geschehene ein – denn wer sprach, bekam Ärger. Hassan Yıldırım, der Kuaför auf der Keupstraße, sah den Täter vor seiner Ladenscheibe das Fahrrad abstellen und er sah, dass es ein Deutscher war; in der Folge galt er selbst als Hauptverdächtiger. Arif Sağdıç sagte den Polizist_innen im Verhör, es seien Nazis gewesen, und wurde daraufhin unmittelbar eingeschüchtert: »Das wollen wir von dir nie wieder hören.« Denn die Beamten wussten die Antwort bereits, als sie ihn fragten, wer denn hinter dem Anschlag stecken könnte. Ihr Urteil war bereits gefällt. 

Also schwieg das Opfer, das doch die Antwort wusste, denn es wurde unmittelbar bedroht. Als 2011 der NSU sich selbst enttarnte und die Öffentlichkeit damit zwang, von der Existenz eines rechten Terrorismus zu sprechen, herrschte auf der Keupstraße und bei den Familienangehörigen der Ermordeten zwar Erleichterung, dass sie nun nicht mehr als Verdächtige galten, aber die ›Mauer des Schweigens‹, wie es der SPIEGEL und andere Medien bezeichneten und in dem Bezeichnen diese Mauer selber errichteten, hielt an. Zu tief saß der Schrecken über das Unrecht, nicht nur Tod und Verletzungen ertragen zu müssen, sondern für diese auch noch verantwortlich gemacht und stigmatisiert worden zu sein. 

Nun gab es also offiziell rechten Terror, obwohl Jahr für Jahr in den Berichten des Verfassungsschutzes stand und bis heute steht, dass es einen solchen gerade nicht gebe. Gleichzeitig aber hat der Verfassungsschutz, der das Netzwerk des NSU-Komplexes maßgeblich bewirtschaftet hatte, bis heute auch den Auftrag, diese Netzwerke vor Strafverfolgung zu schützen, und setzt diesen Auftrag mit der systematischen Zurückhaltung, Schwärzung und Vernichtung wichtiger Dokumente gegenüber parlamentarischen Kontrollgremien um. 

Quellenschutz und Wahrung von Staatsgeheimnissen nennt sich das dann bei den einen; Beihilfe zu Mord, Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, Anstiftung und Strafvereitelung im Amt könnte es in einem funktionierenden Rechtsstaat heißen.  

Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse stochern im Nebel, vor dem Oberlandesgericht in München wird dreist gelogen, man erinnert sich nicht, grinst. Klaus-Dieter Fritsche, Vizepräsident des Verfassungsschutzes während der Mordserie, Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt während der Phase bis zur Selbstenttarnung und danach Staatssekretär für Geheimdienste, begründete vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss das behördliche Lügen mit dem Satz: »Es dürfen keine Geheimnisse bekannt werden, die das Wohl des Staates gefährden.« Gleichwohl lüftet er mit dieser Aussage das Geheimnis hinter dieser Strategie: Es ist der Rassismus, der zum Staatswohl dieser Gesellschaft unsichtbar bleiben muss, denn die Gesellschaft ist durch ihn strukturiert. Aus diesem Grund fühlen sich diese Herren und ihre Ämter dem Nationalen verbunden und verachten (post-)migrantische Lebenswelten. 

Das Geheimnis, das es unbedingt zu wahren gilt, heißt Rassismus.

Die Menschen in der Keupstraße und die Familienangehörigen und Freund_innen der Mordopfer wieder zu ermutigen, sich selber, ihren Nachbar_innen, der eigenen Straße und letztlich auch einer solidarischen Öffentlichkeit zu vertrauen und die eigenen Geschichten zu erzählen, ist ein langer und noch längst nicht abgeschlossener Prozess. Er erfordert vor allem Mut. Heute organisieren sich diese Menschen und wandeln ihren Schmerz in Wut.
Sei es in Theaterstücken wie Urteile oder Die Lücke, die unter Mitwirkung von Betroffenen entstanden sind und aufgeführt werden; in Filmen wie Der Kuaför aus der Keupstraße, wo das Unrecht, das die Straße erdulden musste, sowie die Farce des öffentlichen Gedenkens entlarvt wird; in Publikationen wie der Autobiographie Schmerzliche Heimat von Semiya Şimşek, in der sie den Tod ihres Vaters verarbeitet und um die Selbstbehauptung ihres eigenen Leben ringt; in Interviews von Betroffenen der Keupstraße in der Publikation Von Mauerfall bis Nagelbombe, die den ganzen Rassismus der Behörden und der Stadt Köln deutlich machen; in Artikeln von Angehörigen der Mordopfer in dem Sammelband Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen, wo etwa Gamze Kubaşık von der anfänglichen Entschlossenheit berichtet, sich mit anderen Opfern zusammenzuschließen, um die Mordserie zu skandalisieren und aufzuklären; auf unzähligen öffentlichen Veranstaltungen und Gedenktagen wo zum Beispiel Ismail Yozgat in Kassel unermüdlich um die Umbenennung der Holländischen Straße in Halit Straße und damit um das Andenken an seinen Sohn kämpft; oder in mutigen Statements an den Orten, die sich der Aufklärung des Komplexes verschrieben haben, wie etwa die Aussage von Masliya M., die Tochter des Ladenbesitzers in der Probsteigasse, die als Mädchen von dem Sprengstoffanschlag des NSU schwerst verletzt wurde. Sie machte vor dem OLG in München wütend deutlich, dass sie sich nicht von den Nazis aus dem Land jagen lasse. Und schließlich der offene Brief von Aysen Taşköprü, der Schwester des in Hamburg ermordeten Süleyman Taşköprü an Bundespräsident Gauck, in dem sie nicht nur seiner Einladung zum generösen Staatsempfang eine Absage erteilte, sondern das Minimalprogramm für eine Aufklärung formulierte, die diesen Namen verdient hätte: »Alles was ich noch möchte, sind Antworten. Wer sind die Leute hinter dem NSU? Warum ausgerechnet mein Bruder? Was hatte der deutsche Staat damit zu tun? Wer hat die Akten vernichtet und warum?«
All diese Menschen sprechen in ihrem eigenen Namen; sie alle klagen. Sie klagen um ihre Toten und Verletzten, sie klagen um diejenigen, die fehlen, ihre Klage transportiert ihren Schmerz auf eine öffentliche, offensive Weise. Aber sie beklagen nicht nur ihren Verlust, sondern auch das Unrecht, das ihnen widerfahren ist. Diese Klage ist eine Anklage.

Sie zeigt der Gesellschaft, was der NSU-Komplex ist und wer dazu gehört, unbeirrt von den Ordnungsrufen von Amtsträger_innen und anderen ernannten Expert_innen. Ihre Klage zeigt: Die drei Nazimörder aus Zwickau können nicht jahrelang unbehelligt durch ihnen fremde Städte gereist sein und Leute umgebracht und in die Luft gesprengt haben, ohne auf ein ausgedehntes Unterstützernetzwerk vor Ort zurückgegriffen und ohne Hilfe aus den Behörden erhalten zu haben. Dieses Wissen hat sich in 60 Jahren Einwanderung in dieses Land ausgebildet und sich erfolgreich behauptet. 

Dadurch sind Migrant_innen ungewollt Expert_innen im Umgang mit behördlichem, juristischem, politischem, kulturellem, medialem und alltäglichem Rassismus geworden. 

Und sie veränderten die Städte durch eine migrantische Kultur, die dieses Land für immer prägen sollte und die uns heute als selbstverständliche Lebensqualität vertraut ist. Die migrantischen Lebensweisen hatten zivilisatorische Effekte auf das postnazistische Deutschland.

Im Zuge der Wiedervereinigung änderte sich die gesellschaftliche Stimmung extrem. Anfang der 1990er Jahre wurden Tag für Tag teilweise mörderische Angriffe gegen Migrant_innen geführt, die schließlich de facto zur Abschaffung des verfassungsmäßig garantierten Rechts auf Asyl führten. In diesem Klima entstanden der NSU und seine politische Kultur. Als eine breite Jugendbewegung lernten die jungen Neonazis, dass man folgenlos rassistische Verbrechen verüben könne. Das mehrtägige Pogrom von Rostock Lichtenhagen stand exemplarisch hierfür. Nicht nur konnte der rassistische Mob beobachten, wie die Polizei entgegen ihrer eigenen Lageeinschätzung vom Innenministerium abgezogen wurde. Auch gingen danach die Angreifer_innen straffrei aus, obwohl man ihre Gesichter auf unzähligen Bildern und Videobändern hatte und ihnen dabei zusehen konnte, wie sie tagelang versuchten, ein Haus anzuzünden und die knapp hundert Vietnames_innen darin zu verbrennen. Statt sie ins Gefängnis zu schicken spielte die Justiz auf Zeit; die Akten rutschten bis zur Verjährungsfrist zehn Jahre hinter den Aktenschrank. Dieser Service wurde auch dem sogenannten Terror-Trio zuteil, gegen das 2003 der Haftbefehl eingestellt wurde. Vorher, als ihnen noch Zielfahndungskommandos auf der Spur waren, konnten sie sich sicher sein, rechtzeitig vom V-Mann-Frühwarnsystem alarmiert und in Sicherheit gebracht zu werden.


Heute will von offizieller Seite kein Mensch wissen, wer nun alles der NSU war oder immer noch ist, wer ihm geholfen hat und wie das System funktionierte. Im Prozess in München spielt das für den Richter und die anklagende Bundesanwaltschaft keine Rolle. Einzig die Nebenklage der Betroffenen mit ihren Anwält_innen versucht, auf diesen Aspekt der Aufklärung zu bestehen. 

Die Opfer des Terrors verstanden, dass der NSU eine Strategie verfolgte, die etablierte Einwanderung anzugreifen, quasi die Migrantisierung Deutschlands rückgängig zu machen. Deswegen griff er die jüngere Nachfolgegeneration der Gastarbeiter an, allesamt Geschäftstreibende, viele davon mit deutschem Pass. Und deswegen versuchte er ein Massaker auf der Laden- und Geschäftszeile Keupstraße anzurichten. Sie war und ist das Aushängeschild für die gelungene türkische Einwanderung in ganz Nordrhein-Westfalen und das ökonomische Rückgrat der türkischen Community in Köln. Nicht die Schwächsten und Marginalisiertesten wurden angegriffen, vielmehr legten sich die Nazis mit der gesamten Einwanderungsgesellschaft an.
Man destabilisiert aber nicht Millionen von Migrant_innen, indem man neun von ihnen ermordet. Das kann man nur schaffen, wenn die Angriffe gegen wenige von vielen anderen weitergeführt und verallgemeinert werden. 

Und genau das ist in dem NSU-Komplex passiert. Die türkische Community in Deutschland war tatsächlich terrorisiert, während der Rest der Gesellschaft noch nicht einmal Notiz von diesen Verbrechen genommen hatte. Dieser Terror konnte nur deshalb funktionieren, weil die Morde und die Bomben lediglich Auslöser, Trigger für eine langanhaltende Diffamierung waren. Die Message für die Migrant_innen war klar, nicht nur können sie jederzeit ermordet werden, sondern sie werden auch noch zu Tätern gemacht und jahrelang verfolgt. In Köln betraf das eine ganze Straße. Die Geschäfte waren zerstört, eine nennenswerte Entschädigung gab es bis heute nicht, aber noch viel schlimmer, die deutschen Kunden blieben jahrelang aus. Viele Geschäfte mussten in den Jahren nach der Bombe schließen, der soziale und ökonomische Zusammenhalt der Straße war gefährdet. Diese Dimension des Anschlages, den viele auf der Keupstraße als Anschlag nach dem Anschlag bezeichnen, macht den NSU-Komplex aus. Ohne diese Dimension kann man nicht verstehen, was das Terroristische an dem NSU-Komplex war. Diese Spaltung ist die logische Konsequenz einer Politik der rassifizierten Spannung, die einen Teil der Bevölkerung permanent in Angst versetzt, während die anderen nichts davon wahrnehmen. Aber auch hier haben die Akteur_innen ihre Rechnung ohne die Migrant_innen gemacht.  

Mögen die einen in kargen Knastzellen, traurigen Büros und unfreundlichen Pegida-Demos ihren trüben Traum von einem ausländerfreien Deutschland träumen, in dem sie nur ihre eigene Hässlichkeit gespiegelt sehen möchten; mögen die anderen sich als Gerechte über die Opfer dieser Welt erheben, um ihnen in einer Geste der Großzügigkeit helfen zu können, in der sie nur ihre eigene Sinnhaftigkeit vergewissert sehen möchten. An der machtvollen Anklage der Betroffenen von Rassismus kommen sie alle nicht vorbei.




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*Der Text ist eine gekürzte Version und ist in voller Länge in der Publikation "Urteile. Ein dokumentarisches Theaterstück über die Opfer des NSU. Mit Texten über alltäglichen und strukturellen Rassismus" (Unrast Verlag) nachzulesen. 



*Massimo Perinelli arbeitet als Referent für Migration in der Akademie für Politische Bildung der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin. Zuvor war er an der Universität Köln als Historiker beschäftigt. Seit fast 20 Jahren ist er in dem migrantischen Netzwerk Kanak Attak aktiv und Mitbegründer der Initiative Keupstraße ist überall. Mit dem Kollektiv Dostluk Sineması hat er 2014 das Buch Von Mauerfall bis Nagelbombe. Der NSU-Anschlag im Kontext der Pogrome und Anschläge der neunziger Jahre publiziert.


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