Ich
sehe nicht so aus, als wäre ich von Armut betroffen und fühle mich
auch nicht so. Aber einiges lässt drauf schließen. Ich habe einen
guten Freund gefragt, ob es denn wohl sein könnte, dass ich von
Armut betroffen bin. Er war fest überzeugt davon, dass ich von Armut
betroffen bin, was mich wiederum enttäuschte, denn wie gesagt, ich
fühle mich in keinster Weise arm. Ich trage gerne zerrissen
Klamotten, kaputte Schuhe, Seconhhandware, zersauste Haare und so
Sachen. Aber das ist halt auch Mode. Die Generation von meinem Vater
hätte das noch als Indiz für Armut gesehen. Aber natürlich ist das
hier und heute kein Indiz für Armut. Clochard- und Straßenkinderklamotten sind Couture.
Wenn
ich anfange mir ernsthaft Gedanken zu machen, über die Formen
meiner Existenssicherung, dann wird ziemlich schnell deutlich, dass
die Art wie ich wirtschafte, in keiner Weise kostendeckend ist und
gewinnbringend schon gar nicht. Ich habe keinen Sinn dafür
gewinnbringend zu arbeiten und das wurde mir auch nie beigebracht.
Nicht einmal, dass es bedeutsam sein könnte. Meine Eltern haben zwar
immer vorbildlich gearbeitet, um Geld zu verdienen, so dass mir der
Zusammenhang zwischen Arbeiten und Geldverdienen durchaus klar ist,
aber das stellt sich in meinem Beschäftigungsfeld, wie man so schön
sagt, da stellt sich dieser Zusammenhang einfach nicht her. Ich
dachte mit Bildung kommt Geld. Das ist aber falsch. Meine Eltern
glaubten fest, dass mit Bildung Geld kommt. Leider kann ich ihnen das
an meiner eigenen Person widerlegen. Früher hat wenigstens noch
körperliche Arbeit Geld gebracht.
Fabrikarbeit
in den 60er Jahren, das waren Goldene Zeiten. Als ungelernter Arbeiter hat mein Vater zu seiner Zeit mehr verdient als ich es
mir für die nächsten Jahre je vorstellen kann. Und nach Rückkehr
aus dem 6 wöchigen Türkeiurlaub hat er dann auch noch gesagt: so
jetzt erstmal in aller Ruhe arbeiten gehen und sich von dem ganzen
Urlaubsstress erholen. Wie ist das möglich? Ich darf mich den ganzen
Tag bilden und bin vollkommen erledigt, schon am späten Nachmittag.
Ich
hatte vielmehr Bildungschancen als er, ich habe studiert, ich habe
staatliche Förderung erhalten (und mich dennoch hoch verschuldet),
ich habe mich auch kulturell gebildet, bin viel rumgereist,
beherrsche mehrere Sprachen perfekt, kann mich in unterschiedlichen
Milieus bewegen und artikulieren. Und? Ich bin nicht aufgestiegen.
Ich bin abgestiegen! Ich habe immaterielles Kapital, das ich nicht in
Geld umwandeln kann. Und sitze nun da und schreib in mein Tagebuch.
Meine
Überlebensstrategie dieser Tage lautet: Aus der Not mach eine
Tugend. Zu wenig Geld führt zu mehr Bewusstsein. Ich kaufe wenig
ein. Kein Dach überm Kopf führt zu Reduktion von Eigentum. Nur das
Wesentliche zählt. Ich besitze kaum mehr irgendwelche Güter, weder
Möbel, noch Geschirr, noch sonstige Wohngegenstände. Einige wenige
Objet Trouve sind verteilt in den Kellerabteilen meiner Eltern, von Verwandten und Bekannten und in der Scheune vom
Schrebergarten. Alles ist ausgerichtet auf Umzug oder Abriss der
Zelte. Das sind wohl die Nachwirkungen meiner geflüchteten
Vorfahren. Dafür habe ich aber ein Verständnis von Freiheit. Ich habe nichts, also bin ich! So lässt es sich zumindest geruhsam schlafen.