Palestine 194?

von Imad Mustafa



Diese Woche ist es soweit. Nach über 60 Jahren Vertreibung und Exil und nach über 40 Jahren Besetzung wollen die Palästinenser die Weltgemeinschaft über die Anerkennung ihres Staatsprojekts abstimmen lassen. Ob das Ganze im Rahmen des UN-Sicherheitsrates oder in der Generalversammlung geschehen soll, ist noch nicht klar. Verwirrung gehört zur Taktik der palästinensischen Führung um Präsident Mahmud Abbas.


Der „Friedensprozess“ als Friedenskiller
Fieberhaft haben die USA und Israel versucht, diesen, von ihnen als „einseitig“ bezeichneten Schritt, zu verhindern. Demgemäß schwebt das amerikanische Veto über dem palästinensischen Resolutionsentwurf im Sicherheitsrat. Doch die Palästinenser scheinen entschlossen zu sein, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Zu häufig versandeten die Verhandlungen des „Friedensprozesses“ im Nichts israelischer Verweigerungshaltungen. Zuletzt war es nicht einmal mehr zu Verhandlungen gekommen, da sich Israel beharrlich weigerte, seine in der „Road Map“[1] eingegangen Verpflichtungen einzuhalten, und die Siedlungstätigkeiten im besetzten Westjordanland einzustellen. 

Selbst die Bereitschaft der palästinensischen Unterhändler, auf fundamentale Rechte zu verzichten, etwa das im Völkerrecht verbriefte Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge in ihre Heimat, konnte Israel in den vergangenen Jahren nicht zu ernsthaften Verhandlungen veranlassen. Schweigen oder Ablehnung – das ist die Standardantwort der israelischen Unterhändler, wenn es um die Kernfragen des Konflikts – Flüchtlinge, Jerusalem, Grenzen, Wasserrechte – geht. [2]

Fast zwanzig Jahre nach Abschluss des Interimsabkommens von Oslo, in denen die Palästinenser zunächst eine Verbesserung der Lebensbedingungen und ein allmähliches Verschwinden des Besetzungsapparats aus ihrem Alltag erwarten durften, ist das genaue Gegenteil eingetroffen: Die Zahl der jüdischen Siedler im besetzten Westjordanland hat sich mehr als verdoppelt, die Anzahl der Checkpoints, die die Bewegungsfreiheit der Menschen massiv einschränken und das Westjordanland zu einem Flickenteppich von einander losgelöster Bantustans machen, hat nie dagewesene Höhen erreicht, die fortgesetzte Zerstörung von Häusern und Landnahme, um weitere Siedlungen zu bauen, insbesondere in Ost-Jerusalem, der prospektiven Hauptstadt eines palästinensischen Staates, und die fortgesetzte Inhaftierung und Tötung von Palästinensern in den besetzten Gebieten sprechen eine deutliche Sprache. 



Die UNO als letzte Chance
Vor diesem Hintergrund zeugt der geplante Gang zur UNO von der palästinensischen Einsicht, dass mit Israel, insbesondere aber mit dem aktuellen Ministerpräsidenten Binyamin Netanjahu, kein Frieden zu machen ist. Auch der aktuelle amerikanische Präsident Barack Obama hat in dieser Hinsicht viele Menschen enttäuscht. Zwar hat er in seiner berühmten Kairoer Rede [3] das Schicksal der Palästinenser mit dem der Afro-Amerikaner verglichen und damit viel Empathie gezeigt.


Letztendlich blieb er jedoch weit hinter den durch diese Äußerungen geweckten Erwartungen zurück. Wieder einmal zeigte sich, dass Amerika im „Friedensprozess“ mit gespaltener Zunge redet: Werden die Palästinenser bei ihrem Bestreben einen eigenen, souveränen Staat zu gründen, augenscheinlich unterstützt, tun die USA doch in Wirklichkeit alles dafür, dass der Status Quo im Nahen Osten unangetastet bleibt. So und nicht anders ist das angekündigte US-Veto zum palästinensischen Resolutionsentwurf, der in den nächsten Tagen im Sicherheitsrat eingereicht werden soll, zu verstehen. 

Ob dabei genuin geostrategische Interessen der USA oder ein überproportionaler Einfluss israelischer Interessenverbände auf deren Außenpolitik ihr Handeln bestimmen, wie oftmals vermutet wird, ist für die Palästinenser zweitrangig. Fakt ist, dass die Staatsausrufung die palästinensische Führung auf Konfrontationskurs mit den USA bringt. Schon ist zu hören, dass die USA im Falle eines „unilateralen“ Vorgehens, die Hilfsgelder an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in Höhe von 500 Millionen Dollar streichen würde. Doch was treibt die von der PLO dominierte PA zu einem solch drastischen Schritt?

Es sind wohl drei Faktoren, die hier ineinandergreifen:
Erstens sieht sich die PA einem enormen Legitimitätsverlust in der eigenen Bevölkerung gegenüber, verursacht durch die offensichtliche Kluft zwischen der alltäglichen Realität im besetzten Westjordanland und den trotzdem aufrechterhaltenen Verhandlungen, die doch zu keinem Ergebnis geführt haben. So ist der Gang vor die UNO als Flucht nach Vorn zu verstehen, als letzte Chance, auch die eigene, politische Haut zu retten.

Zweitens will man mit solch einem Schritt seinem größten innenpolitischen Rivalen, der Hamas, den Wind aus den Segeln nehmen. Eine erfolgreiche Staatsgründung, unabhängig davon, wie die konkrete Umsetzung zunächst aussieht, würde die Popularität von Mahmud Abbas und seiner PLO in ungekannte Höhen treiben. 

Drittens scheint das historische Momentum für solch ein Unternehmen so günstig wie wohl selten zuvor zu sein. Die arabische Welt macht seit Anfang des Jahres große politische Veränderungen durch, die das Potential haben, die Länder des Nahen Ostens aus der jahrzehntelangen Vormundschaft des Westens zu befreien. Diesen Zug möchte die PA anscheinend nicht verpassen.



Staatsausrufung – und dann?
Der Erfolg dieses Schrittes wird zu einem erheblichen Maß auch von der israelischen Reaktion vor Ort abhängen. Schon ist in Medien zu lesen, dass im Westjordanland Tränengas und Blendgranaten an Siedler verteilt werden, um die zu friedlichen Demonstrationen aufgerufenen Palästinenser fernzuhalten. Hierzu hat der israelische Generalstab virtuelle rote Linien um alle Siedlungen gezogen, bei deren Überschreiten durch palästinensische Demonstranten es den Soldaten erlaubt sein soll, auf ihre Beine zu schießen. Scharf, versteht sich.


Doch auch wenn das Staatsprojekt der Palästinenser nicht im eigenen Blut ertrinken sollte, steht die Frage nach der konkreten Umsetzung im Raum.
Werden mit der Staatsausrufung alle Sorgen getilgt sein, die Besetzung mithin passé? Um es vorweg zu nehmen: kurzfristig wird das ein Traum bleiben. 


Eines der wichtigsten Merkmale moderner Staaten ist deren Souveränität über ein definiertes Territorium mit international anerkannten Grenzen. Und genau hier liegt der Hund begraben: Zwar werden durch die Staatsausrufung und die wahrscheinliche Anerkennung des Staates Palästina in den Grenzen vom 4.Juni 1967 [4] vor der UN die Grenzen desselben definiert und international anerkannt, jedoch werden die israelischen Checkpoints nicht über Nacht verschwinden, die Kontrolle und Sicherung der Grenzen, normalerweise oberster Ausdruck der Souveränität, wird immer noch in israelischer Hand liegen. 


Das palästinensische Territorium wird weiterhin ein zerstreuter Flickenteppich ohne Kontinuität sein, Gaza weiterhin ein trostloses Dasein, losgelöst von Restpalästina, fristen. 

Andererseits liegt im Gang zur UNO und der Bitte um Anerkennung eine weitere Chance, die nicht unterschätzt werden sollte. Nun wird buchstäblich vor aller Welt deutlich werden, wer die Verweigerer in diesem Konflikt sind, der seit Jahrzehnten auf dem Rücken von Millionen von Palästinensern ausgetragen wird. Diese Verweigerer, zu denen die USA, Israel, Deutschland und einige andere EU-Mitgliedsländer gehören, werden in dieser Frage fortan politisch isoliert sein. Der Druck auf sie, insbesondere auf die USA und Israel wird in den nächsten Monaten und Jahren enorm steigen, eine gerechte und dauerhafte Lösung für die offenen Fragen des Konflikts zu finden.

Zudem wird es mit dem Zugang zu vielen Institutionen, wie etwa dem Internationalen Strafgerichtshof, für einen zukünftigen Staat Palästina leichter werden, seine Rechte auf der internationalen Ebene geltend zu machen. Wenn dann auch noch die innenpolitische Spaltung zwischen Gaza und Westjordanland, zwischen Hamas und Fatah überwunden werden sollte, wenn die Palästinenser es schaffen sollten, wieder mit einer Zunge zu sprechen, um ihre legitimen Interessen und völkerrechtlich verbrieften Rechte geltend zu machen, dann besteht mittel- bis langfristig eine realistische Möglichkeit, ein souveräner und unabhängiger, der 194. Mitgliedsstaat der UN zu werden. 


Zusatz: Heute, am 29. Vovember 2012, wird in der Generalversammlung der Vereinten Nationen über die Aufnahme der Palästinenser als Beobachterstaat abgestimmt. Nachdem letztes Jahr der Antrag auf Vollmitgliedschaft  am Widerstand der USA im Sicherheitsrat gescheitert war, wird erwartet, dass dieser Antrag breite Zustimmung in der Generalversammlung finden wird.

Auch heute werden die USA, Israel, Deutschland und einige andere Staaten dem Streben der Palästinenser nicht zustimmen.


[1] Als „Road Map“ oder „Friedensfahrplan“ wird die Friedensinitiative von US Präsident George W. Bush bezeichnet, die er in einer Rede im Jahr 2002 vorgestellt hat. Nach dieser hat sich Israel u.a. zu einem Stop des Siedlungsbaus für die Dauer der Verhandlungen mit den Palästinensern verpflichtet. Am Ende dieses Stufenplans sollte die Errichtung eines palästinensischen States stehen.

[2] Vgl. zu den Verhandlungen das lesenswerte Insiderbuch von Ziyad Clot, eines französisch-palästinensischen Rechtsanwalts, der zwischen Frühjahr 2008 und Frühjahr 2009 Teil der NSU war, also einer Gruppe externer juristischer Berater der PLO. Er selbst hat an direkten Verhandlungen zwischen Palästinensern und Israelis bezüglich der Lösung der Flüchtlingsfrage teilgenommen. Im Frühjahr 2011 hat er zehntausende interner Dokumente der NSU an den Guardian und an Al Jazeera weitergeleitet. Die als „Palestine Papers“ bekanntgewordenen Dokumente zeigen mitunter sehr plastisch die israelische Verweigerungshaltung und die gleichzeitige Bereitschaft der palästinensischen Delegation, ohne nennenswerte israelische Gegenleistung, fundamentale Rechte der Palästinenser zu „verramschen“. Seine Motivation, die Dokumente an die Öffentlichkeit zu leiten, wurzelt in der Frustration über beide Umstände.
Clot, Ziyad: Il n'y aura pas d'Etat palestinien : Journal d'un négociateur en Palestine, Max Milo 2010. 
[Clot, Ziyad: Warum es keinen Palästinenserstaat geben wird, Zambon, im Erscheinen]

[3] Am 04. Juni 2009 hat US Präsident Barack Obama eine als historisch bezeichnete Rede in Kairo gehalten, in der er der muslimischen Welt die „Hände gereicht“ hat. Allerdings blieb sie im Prinzip folgenlos, substantielle Änderungen der US-Politik gegenüber der arabisch-muslimischen Welt waren nicht erkennbar.

[4] Der 04. Juni 1967 markiert den Beginn des sog. Sechs-Tage Kriegs oder auch Juni-Kriegs. Im Zuge dieses Krieges eroberte Israel das gesamte Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalems, den Gazastreifen, die Golanhöhen und den später zurückgegebenen Sinai. Im Zuge der Anerkennung des Staates Israel durch die PLO, haben die Palästinenser diese Grenzen als ihre zukünftigen Staatsgrenzen definiert. Gestützt wird ihre Haltung durch mehrere Sicherheitsratsresolutionen, in denen Israel aufgerufen wird, sich auf diese Grenzen zurückzuziehen und die Besetzung palästinensischen Territoriums zu beenden.

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