Landgericht Istanbul während der Gezi Park Proteste
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Wie
beim Schneeballeffekt hat sich der Protest in Istanbul von einer
kleinen Gruppe von Aktivisten_innen zu einer breiten
gesellschaftlichen landesweiten Reaktion für Freiheit und
Menschenrechte gegen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan,
die AKP-Politik und ihrem Politikstil entwickelt.
Von Tamer Düzyol*
Der
Taksim-Platz, ein zentraler Platz im europäischen Teil von Istanbul,
wird seit Monaten umgebaut. Der Verkehr, der rund dem Platz stattfand, wird auf unterirdische Tunnel verlagert und zu einem
großen Areal für Fußgänger umstrukturiert. Der Gezi-Park, der an
dem Taksim-Platz angrenzt und ein wichtiger Schauplatz der letzten
Wochen geworden ist, ist einer der wenigen Grünflächen, die in den
Zentren von Istanbul noch existieren. Anstelle des Parks soll im
Rahmen der Neustrukturierung von Taksim, die in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts abgerissene Militärkaserne in Form eines
Einkaufszentrum neu errichtet werden.
Der
Protest begann mit der Mahnwache von Aktivisten_innen im Gezi-Park,
die gegen die Abholzung der Bäume in dem Park kampierten. Der
Protest weitete sich durch die unverhältnismäßige Vorgehensweise
der Polizei gegen die Aktivisten/innen mit Wasserwerfern, Tränengas
und physischer Polizeigewalt aus. Am Freitag (31.05.2013) und Samstag
(01.06.2013) erreichte die Demonstrationswelle einen Zenit. Die
gewaltsame und unverhältnismäßige Räumung des Parkareals am
Samstag, 15.06.2013, durch die Polizei, Erdoğans
Mobilisierung seiner Anhänger_innen in
Ankara und Istanbul und der Einsatz der Gendarmerie und die nicht
anhaltenden Proteste zeigen die Brisanz der Situation in der Türkei.
Ankara,
Izmir und Adana sind drei weitere Metropolen, in denen die Proteste
zu Ausschreitungen zwischen Demonstrierende und Polizei ausgeweitet
sind. In anderen Städten der Türkei finden
Solidaritätsdemonstrationen statt. Menschen, die sich nicht an den
Demonstrationen beteiligen, klappern mit ihren Töpfen abends von
ihren Fenster und Balkonen aus. Lichterzeichen in Wohnungen, die in
den 1990er Jahren zur Aufklärung undurchsichtiger Strukturen im
Staat als Protestform gewählt wurden, sind auch jetzt zu beobachten.
Die
Mainstreammedien genügen nicht dem Ausmaß der Proteste. Zu Beginn
der Proteste haben sie kaum darüber berichtet. Deswegen erfuhren sie
auch handtätige Reaktionen von den Demonstrierenden, weil sie den
Eindruck der Gleichschaltung erweckten.
Die
Ökologie und das städtische Prekariat in der Türkei leiden unter
der Gentrifizierung, die unter dem anatolischen Turbokapitalismus
zugenommen hat. Einkaufszentren spielen hier eine symbolische Rolle,
die in der letzten Dekade wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.
Alleine in Istanbul existieren 101 Einkaufszentren, wovon 21 im Jahre
2012 errichtet wurden. So will die Aufopferung der Grünfläche am
Taksim-Platz für eine weitere Mall von den Istanbuler/innen nicht
hingenommen werden.
Seit
Jahren werden soziale Proteste in der Türkei entweder im Keime
erstickt oder mit der brutalen Unverhältnismäßigkeit der Polizei
beendet. Zuletzt kamen Wasserwerfer, Tränengas und Schlagstöcke
während der 1. Mai-Demonstrationen zum Einsatz. Jedes Ventil des
sozialen Unmuts wird auf diesem Wege unterdrückt.
Das
Wachsen der Proteste gegen die Abholzung der Bäume zu breiten
gesellschaftlichen Proteste ist gleichzeitig eine Reaktion gegen
Recep Tayyip Erdoğan, die AKP-Politik und
ihrem Politikstil, der sich kompromisslos zeigt und immer mehr
autoritär wahrgenommen wird.
Ein
wichtiger Teil der Demonstrierenden sieht hinter der AKP-Politik die
Durchsetzung eines gesellschaftlichen und staatlichen Systems, dass
sich auf die Religion beruft und ein konservatives Weltbild in den
Lebenssphären der Menschen durchzusetzen versucht. Besonders die
letzten Debatten des Alkoholverbots oder vergangene Debatten zum
Abtreibungsverbot, Ehebruch und die Rolle der Frau sind Gründe,
weshalb die AKP mit der Errichtung eines religiösen Systems in
Verbindung gebracht wird.
Der
Protest wird von den verschiedensten Teilen der Bevölkerung
getragen. Er zieht sich durch verschiedene Generationen, ist
überkonfessionell und auch ethnisch heterogen. Auch
wenn die Mehrheit der Demonstrierenden aus dem Linken Spektrum und
Mitte-Links zu zuordnen sind, können auch unter den Protestierenden
rechte Gruppen, unpolitische Bürger_innen und Prominente der
türkischen Medienlandschaft beobachtet werden, die den Unmut gegen
die AKP teilen. Auch AKP-Sympathisierenden und ehemalige
AKP-Wähler_innen können unter den Demonstrierenden gefunden werden.
Der
Unmut über die Politik und dem Politikstil von Recep Tayyip Erdoğan
wächst. Der Gezi Park-Protest ist längst
keine Randerscheinung, sondern eine ernst zu nehmende Reaktion
verschiedener Gesellschaftsgruppen mit verschiedenartigsten
Motivationen. Recep Tayyip Erdoğan kann
nicht weiter den Stil eines autoritären
Politikers betreiben. Es liegt in den
Händen von der AKP und Erdoğan
zu deeskalieren und Raum für
gesellschaftliche Wut, Frust und Protest zu zulassen.
*Tamer Düzyol ist Promovend an der Universität Erfurt
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