Eine Analyse der Gezi Park-Proteste

Landgericht Istanbul während der Gezi Park Proteste
(gepostet auf fb, von Erden Kosova , 15.Juni 2013)


Wie beim Schneeballeffekt hat sich der Protest in Istanbul von einer kleinen Gruppe von Aktivisten_innen zu einer breiten gesellschaftlichen landesweiten Reaktion für Freiheit und Menschenrechte gegen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan, die AKP-Politik und ihrem Politikstil entwickelt. 

Von Tamer Düzyol*


Der Taksim-Platz, ein zentraler Platz im europäischen Teil von Istanbul, wird seit Monaten umgebaut. Der Verkehr, der rund dem Platz stattfand, wird auf unterirdische Tunnel verlagert und zu einem großen Areal für Fußgänger umstrukturiert. Der Gezi-Park, der an dem Taksim-Platz angrenzt und ein wichtiger Schauplatz der letzten Wochen geworden ist, ist einer der wenigen Grünflächen, die in den Zentren von Istanbul noch existieren. Anstelle des Parks soll im Rahmen der Neustrukturierung von Taksim, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgerissene Militärkaserne in Form eines Einkaufszentrum neu errichtet werden.

Der Protest begann mit der Mahnwache von Aktivisten_innen im Gezi-Park, die gegen die Abholzung der Bäume in dem Park kampierten. Der Protest weitete sich durch die unverhältnismäßige Vorgehensweise der Polizei gegen die Aktivisten/innen mit Wasserwerfern, Tränengas und physischer Polizeigewalt aus. Am Freitag (31.05.2013) und Samstag (01.06.2013) erreichte die Demonstrationswelle einen Zenit. Die gewaltsame und unverhältnismäßige Räumung des Parkareals am Samstag, 15.06.2013, durch die Polizei, Erdoğans Mobilisierung seiner Anhänger_innen in Ankara und Istanbul und der Einsatz der Gendarmerie und die nicht anhaltenden Proteste zeigen die Brisanz der Situation in der Türkei.

Ankara, Izmir und Adana sind drei weitere Metropolen, in denen die Proteste zu Ausschreitungen zwischen Demonstrierende und Polizei ausgeweitet sind. In anderen Städten der Türkei finden Solidaritätsdemonstrationen statt. Menschen, die sich nicht an den Demonstrationen beteiligen, klappern mit ihren Töpfen abends von ihren Fenster und Balkonen aus. Lichterzeichen in Wohnungen, die in den 1990er Jahren zur Aufklärung undurchsichtiger Strukturen im Staat als Protestform gewählt wurden, sind auch jetzt zu beobachten. 
 
Die Mainstreammedien genügen nicht dem Ausmaß der Proteste. Zu Beginn der Proteste haben sie kaum darüber berichtet. Deswegen erfuhren sie auch handtätige Reaktionen von den Demonstrierenden, weil sie den Eindruck der Gleichschaltung erweckten.

Die Ökologie und das städtische Prekariat in der Türkei leiden unter der Gentrifizierung, die unter dem anatolischen Turbokapitalismus zugenommen hat. Einkaufszentren spielen hier eine symbolische Rolle, die in der letzten Dekade wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Alleine in Istanbul existieren 101 Einkaufszentren, wovon 21 im Jahre 2012 errichtet wurden. So will die Aufopferung der Grünfläche am Taksim-Platz für eine weitere Mall von den Istanbuler/innen nicht hingenommen werden.

Seit Jahren werden soziale Proteste in der Türkei entweder im Keime erstickt oder mit der brutalen Unverhältnismäßigkeit der Polizei beendet. Zuletzt kamen Wasserwerfer, Tränengas und Schlagstöcke während der 1. Mai-Demonstrationen zum Einsatz. Jedes Ventil des sozialen Unmuts wird auf diesem Wege unterdrückt. 
 
Das Wachsen der Proteste gegen die Abholzung der Bäume zu breiten gesellschaftlichen Proteste ist gleichzeitig eine Reaktion gegen Recep Tayyip Erdoğan, die AKP-Politik und ihrem Politikstil, der sich kompromisslos zeigt und immer mehr autoritär wahrgenommen wird. 
 
Ein wichtiger Teil der Demonstrierenden sieht hinter der AKP-Politik die Durchsetzung eines gesellschaftlichen und staatlichen Systems, dass sich auf die Religion beruft und ein konservatives Weltbild in den Lebenssphären der Menschen durchzusetzen versucht. Besonders die letzten Debatten des Alkoholverbots oder vergangene Debatten zum Abtreibungsverbot, Ehebruch und die Rolle der Frau sind Gründe, weshalb die AKP mit der Errichtung eines religiösen Systems in Verbindung gebracht wird.

Der Protest wird von den verschiedensten Teilen der Bevölkerung getragen. Er zieht sich durch verschiedene Generationen, ist überkonfessionell und auch ethnisch heterogen. Auch wenn die Mehrheit der Demonstrierenden aus dem Linken Spektrum und Mitte-Links zu zuordnen sind, können auch unter den Protestierenden rechte Gruppen, unpolitische Bürger_innen und Prominente der türkischen Medienlandschaft beobachtet werden, die den Unmut gegen die AKP teilen. Auch AKP-Sympathisierenden und ehemalige AKP-Wähler_innen können unter den Demonstrierenden gefunden werden.

Der Unmut über die Politik und dem Politikstil von Recep Tayyip Erdoğan wächst. Der Gezi Park-Protest ist längst keine Randerscheinung, sondern eine ernst zu nehmende Reaktion verschiedener Gesellschaftsgruppen mit verschiedenartigsten Motivationen. Recep Tayyip Erdoğan kann nicht weiter den Stil eines autoritären Politikers betreiben. Es liegt in den Händen von der AKP und Erdoğan zu deeskalieren und Raum für gesellschaftliche Wut, Frust und Protest zu zulassen.



*Tamer Düzyol ist Promovend an der Universität Erfurt









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