Stimmen von den Gezi Park-Protesten (II)
D.B. aus Istanbul, 30, Dozentin
Angefangen
hat für mich alles am Donnerstag. Wie jeden
Donnerstag wollte ich wegen der großen Baustelle am Taksim-Platz die
schöne und angenehm ruhige Abkürzung durch den Gezi Park nehmen, um
zu „Caritas“ zu gelangen. Unter den großen alten Bäumen kam mir
wieder in den Sinn, was sich in den letzten Wochen
herumgesprochen hatte: nämlich, dass der Park zu Gunsten eines
neuen Einkaufszentrums abgerissen werden sollte.
Ich selbst hatte mich einige Wochen an einer
Unterschriften-Aktion gegen den Verbau dieser Grünfläche beteiligt.
Darin erschöpfte sich mein gesamter Tatendrang. Ich war traurig und
genervt zugleich, das der willkürliche Beschluss von Erdoğan
nicht nur bei mir, sondern bei den meisten
Menschen schon in Vergessenheit geraten war.
Einige
Meter weiter im Park stieß ich dann auf eine Gruppe von etwa 500 bis
600 Menschen. Die Leute hatten sich hier versammelt, um ihren
Unmut gegen die Zerstörung der letzten und wenigen Grünflächen in
der Megapolis kundzutun. Den Protest um die Grünfläche wollten die
meisten Parkbesetzer auch als ein stellvertretenden Protest
verstanden wissen. Es ging und geht ihnen auch darum, gegen mangelnde
demokratische Mitspracherechte, gegen die staatliche Willkür und
viele andere Einschränkungen der Freiheit von Seiten der
Regierungssystems zu demonstrieren. Es verlief alles absolut
friedlich, bis die Polzei anfing Gewalt anzuwenden.
Gegen 22 Uhr Abend bekam ich die Anfrage von Freunden, ob ich mit auf
die Demo im Gezi Park kommen wolle. In der Hoffnung einige andere
Menschen anzutreffen, die ähnlich dachten wie wir, machte ich mich
schließlich nach Taksim auf. Als ich im Park ankam und Tausende von
Menschen dorthinströmen sah, war ich vollkommen überwältigt. Von
Anderen, die bereits einige Nächte im Park übernächtigt hatten,
erfuhr ich von nächtlichen Aktionen der Polizei, in denen sie die
Zelte der friedlichen Parkwiderständler angezündet hatten, um den
Protest ein Ende zu machen. Mit dieser Brutalität und verachtenden
Haltung vonseiten der „Polizei fürs Volk“ ging es dann in den
folgenden Tagen weiter.
Am
Freitagabend liefen mein Partner und ich solidarisch mit Tausenden
von Demonstranten von Taksim nach Besiktaş
um die dortige Polizeigewalt,
die mit unzähligen Tränengas-Attacken und wasserwerfenden Panzern
gegen die Demonstranten vorging. Wir sangen Slogans wie z.B. „faşizme
karşı, omuz
omuza“ („Schulter an Schulter gegen den Faschismus”oder „Tayyip
istifa“ („Tayyip tritt zurück“). Nachdem wir am Dolmabahçe
Palast vorbei marchiert waren, konnte man schon die ersten dicken
Rauchwolken sehen, die vor der Menschenmasse waren. Ich war sehr
angespannt, weil ich solchen unkontrollierten Vorgängen noch nie
ausgesetzt war.
Durch die Gasbomben brach an den vorderen Reihen, in
den auch wir uns befanden - einige Male hintereinander eine
Massenpanik aus. Alle stürmten nach hinten und ich wusste nicht, ob
ich mich mehr vor der unkontrollierten Massenpanik oder vor den
Aktionen der Staatsgewalt fürchten soll. In diesem Moment riefen von
hinten erste Stimmen, dass die Panzer kommen. Sie hatten uns
absichtlich in die Enge getrieben.
Ich rechnete mit Allem. Es gab kein vor und kein zurück. Die
Menschen versuchten sich hinter den Plakatwänden zu verstecken.
Leute, die vorliefen, kamen panisch wieder zurück gelaufen, weil zu
viel Tränengas gesprüht wurde. Hände und Stimmen wurden eingesetzt
und riefen „yavaş,
yavaş“
(„langsam, langsam”), bevor noch jemand zu Tode getrampelt wurde.
Husten war von allen Seiten zu hören. Es gab keinen Ausweg. Wir
drehten uns dicht aneinander gedrängt mit dem Rücken zur Straße
und drei Panzer fuhren an den Massen vorbei und spritzten auf uns mit
dem harten Wasserstrahl vom Wasserwerfern. Eine Frau neben mir wurde
panisch. Ich hatte richtig Angst.
Mein Mann zehrte mich den ganzen
Weg zurück und wir fanden die letzte kleine Straße, die nicht
gesperrt war. Wir mussten einen großen Umweg um unser Viertel
machen, um nach Hause zu gelangen, weil die Straßen mit Tränengas
geschwängert waren. Unsere Augen hatten ohnehin Gas abbekommen und
brannten schrecklich. Passanten begannen vor lauter Gas in den
Straßen zu husten, allen liefen die Tränen runter. Wir gaben unsere
Atemmasken an zwei alte Damen weiter, die verzweifelt von ihrer OP
sprachen und wie sie nun nach Hause kommen sollten. Daheim musste die Balkontüre
trotz der Höhenlage unserer Wohnung die ganze Nacht geschlossen
bleiben, damit uns nicht wieder die Augen brannten.
In dieser und in
der folgenden Nacht waren sehr viele Schüsse in meinem Viertel zu
hören. Ein Freund, der von der Straßenschlacht zurückkam, hatte
eine große Bauchverletzung. Ein Polizist hatte aus 50 Meter
Entfernung mit einer Gaspatrone auf ihn gezielt und ihn getroffen.
Heute, 5 Tage nach dem Ereignis, ist der Bauch dick, entzündet und
in allen Farben angelaufen. Ein anderer Freund wurde von einem
Polizisten rücklinks überrascht und mit einem Pflasterstein
beworfen, der ihn zum Glück nur streifte.
Als
Zeichen ihrer Solidarität schlagen die Menschen in sämtlichen
Stadtteilen Istanbuls jede Nacht Töpfe und schalten ihre
Wohnungslichter an und aus. Damit wollen sie ihre Verbundenheit mit
jenen Menschen verdeutlichen, die trotz der schrecklichen
Willkürtaten der Polizei immer noch auf den Straßen der Türkei für
die Rechte der Bürger kämpfen.
*
Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan
bezeichnete die Demonstrant_innen der Gezi
Park-Proteste als „çapulcu” („Räuber“/
„Chaoten“). Die Protestierenden haben diese negative Zuschreibung
aufgegriffen und sie positiv besetzt. Nun verstehen sie ihren Protest
selber als „çapuling”, oder
„çapul“:
http://webtv.radikal.com.tr/Turkiye/3736/yarin-aksam-capuling-etkinligi-yapiliyor.aspx--------------------------
Das Interview führte Tamer Düzyol, Promovend und Lehrbeauftragter an der Universität Erfurt.
danke für Deinen Bericht! Ich bin auch in der Türkei seit die Proteste angefangen haben, allerdings habe ich die ersten Tage in einer sehr unterschiedlichen Umgebung verbracht. Ich habe in einem sehr konservativen Studentenwohnheim gelebt (lässt sich auf meinem blog www.frolleineuropa.de nachlesen) Das Töpfeklappern und Lichterflackern habe ich dort aber auch mitbekommen, sehr sehr eindrucksvoll! Heute verbringe ich jeden Tag im nun ja besetzten Gezi-Park und bestauene das entstande Utopia. Es ist wahnsinn, was die Türken sich hier aufgebaut haben! Die Proteste sind so unglaublich kreativ und fruchtbar, ich hoffe sehr, dass sie in den nächsten Tagen nicht wieder ein brutales Ende finden.
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