Aufgrund der Demonstrationen und brutalen Vorgehensweise der Polizei gegenüber den Demonstranten_innen, solidarisiert sich das Migrantenstadl mit den Gezi Park-Protesten. Wir wollen einige Stimmen, die bei den Protesten waren zu Worte kommen lassen.
S.Y. (Istanbul, 30, Künstlerin)
Ich positioniere mich nicht, sondern versuche die Lage möglichst objektiv widerzuspiegeln und weiterzuleiten.
Das, was hier seit drei Tagen (seit Freitag, den 31.05.) von Seiten der Staatsgewalt gegen die Bürger_innen dieses Landes veranstaltet wird, ist unglaublich gewaltsam, unmenschlich, völlig unkontrolliert und furchteinflößend. Amnesty International berichtet von Toten.
Die Menschen werden in Straßen eingekesselt, von beiden Seiten aus kurzer Distanz mit Gaspatronen und anderen unbekannten Chemikalien beschossen, obwohl auf den Patronen, die hier unzählig auf den Straßen liegen, steht, dass auf gar keinen Fall auf Menschen gezielt werden darf. Die Polizei hat mit diesem Vergehen zu unzähligen Kopfverletzungen geführt, so dass Krankenhäuser und die Gehirnchirurgen völlig überlaufen und überfordert sind. Krankenhäuser haben dazu aufgerufen, sich die eigene Blutgruppe auf den Arm zu schreiben, damit Bluttransfusionen schneller geschehen können.
Menschen werden schutzlos von der Polizei niedergeschlagen und -geknüppelt, bis in Hauseingänge verfolgt und dort in den Häusern ausgeräuchert. Unzählige werden festgenommen und unter völlig unzumutbaren Umständen festgehalten und eingesperrt. Kommunikationsmedien und Straßenkameras werden von Seiten der Regierung sporadisch ausgeschaltet, um Beweise zu verhindern. Den Smartphones sei Dank!
Viel schlimmer ist es aber, dass der Staatschef die Polizei nicht zurückhält und diese Lage nicht zu beruhigen versucht, sondern noch mehr Öl ins Feuer gießt. Realitätsfern spricht er immer noch von Bäumen, dem Bau einer Moschee, von "Dahergelaufenen", versucht zu polarisieren, wobei es inzwischen um eine landesweite Regierungskritik und die Forderung nach "Tayyips Rücktritt" geht.
In Ankara, Izmir, Istanbul, Adana, Antakya, Konya, Antalya, Tekirdağ und anderen Städten sind Millionen Menschen auf den Straßen und protestieren gegen die Willkür der Regierung und die Ohnmacht der Menschen, die Zensur der Medien (es gibt kaum ein Land, das so viele Journalisten in Gefängnissen hält), das Fehlen der Demokratie bzw. eines Demokratieverständnisses und die Taubheit gegenüber den Stimmen aus dem Volk. Macht euch selbst ein Bild, wenn nicht schon längst geschehen:
http://showdiscontent.com/
Während der Proteste stellte sich klar heraus, dass es keine zu vertretende Opposition gibt, was einen Militäreinsatz bedeuten könnte. Die Historie der Türkei kennt das schon, allerdings in einer etwas anderen Form. Was dann passiert ist unklar. Ob sich das Volk wieder beruhigt, kann ich nicht einschätzen.
Die Türkei wird international als Pufferzone zwischen Ost und West gesehen. Was, wenn diese Pufferzone zur Krisenregion wird? Was sind die Konsequenzen für den Nahen Osten und Europa?
Über die Medien schreibe ich nichts mehr (ich habe mich nur noch einmal erinnert, warum ich seit über 10 Jahren keinen Fernseher habe), sondern richte mich an euch, soziale Netzwerke, wie Twitter, Facebook, Youtube, etc. zu nutzen und aufzuklären, was zur Zeit in der Türkei passiert.
Ich, die behütet in Deutschland groß geworden ist, Deutsche Staatsbürgerin ist und ihr Leben lang nach den Regeln des Humanismus gehandelt hat, bin erschüttert und schockiert. Ich erlebe zum ersten Mal so einen Zustand aus nächster Nähe und fürchte mich. Ich wohne ein paar Minuten vom Taksim Platz entfernt und nicht weit von Besiktaş und komme bei jedem Schritt vor die Tür in eine Tränengaswolke. Der Unterschied zu den Menschen hier: Ich kann jederzeit zurück. Die Menschen nicht.
Hier geht es nicht um die Unterstützung irgendeiner Partei. Hier geht es nicht nur um Bäume. Hier geht es um Menschenrechte.
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Das Interview führte Tamer Düzyol, Promovend und Lehrbeauftragter an der Universität Erfurt.
Mir wurde für mein Blog ein Augenzeugenbericht geschickt, der Verfasser ist ein Backpacker aus Deutschland, 18 Jahre alt und spricht/versteht auch Türkisch:
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