Buch des Monats: Mama, darf ich das Deutschlandlied singen*

 

Deutschland im Jahr 2020: In Magdeburg steht der Mörder und Rechtsterrorist von Halle vor Gericht. In Frankfurt am Main muss sich der rechtsradikale Mörder von Walter Lübcke verantworten. Der Rechtsterrorist, der im Frühjahr in Hanau neun Menschen ermordete, entging der Strafverfolgung, indem er sich selbst tötete. Und seit dem Frühjahr wütet eine Pandemie, die eine Melange aus Esoterik*innen, Nazis, Impfgegner*innen und Reichsbürger*innen unter dem Label Querdenker mobilisiert, die auch vor Gewalt gegen Journalist*innen nicht zurückschrecken und ein Ende der „Merkel-Diktatur“ fordern. In diese Gemengelage interveniert die radikale Intellektuelle Esther Dischereit mit ihrem aktuellen Buch „Mama, darf ich das Deutschlandlied singen?“.

Ihre Essays, Alltagsbeobachtungen, Berichte, Interviews, Reflektionen und erzählerischen Streifzüge durch New York oder Ostdeutschland kreisen um die (Un)möglichkeit jüdischen Lebens und Schreibens in Deutschland, gelebten politischen Aktivismus sowie Widerständigkeit in Theorie und Praxis. Sie schickt ihnen im Vorwort den gewiss programmatischen Satz voraus, wonach es „im Grunde darum geht, dass der Bürgersteig allen gehört und keine Gruppe beschließen kann, ob jemand da gehen darf oder nicht.“

Engagiert, emphatisch, schnörkellos und ohne Furcht, anzuecken, nähert sich Dischereit in der ihr eigenen Art den allzu deutschen Zuständen der jüngsten Vergangenheit an und lässt die Leser*innen an ihrem „dekonstruktiven Vergnügen“ teilhaben, ohne je selbst in den Verdacht zu kommen, einer Ideologie anzuhängen. Im Gegenteil: In bester ideologiekritischer, dialektischer Manier schreibt Dischereit, dass ihr „Schreiben sich in dem gleichen Maß der >>Wahrheit<< nähert, wie es sich davon entfernt“. In ihrer Kritik gesellschaftlicher und politischer Missstände bleibt sie stets klar im Argument und klagt immer wieder an: Die Institutionen, die bei der NSU-Mordserie versagt haben, den strukturellen Rassismus, der dieses Versagen begünstigt hat, EUropa, das hilfsbedürftige Menschen in Moria sich selbst und der Witterung überlässt. Auch die völkerrechtswidrige israelische Siedlungspolitik spart sie in ihrer Kritik nicht aus und schlägt vor, die vertriebenen Palästinenser*innen in den zu räumenden Siedlungen zu repatriieren. Es sind die Armen, Entrechteten, Ausgeschlossenen, diejenigen ohne Lobby und öffentliche Stimme, denen sich die Autorin - auch in ihrer politisch-aktivistischen Praxis - zuwendet.

Das große Verdienst von Esther Dischereits Buch liegt jedoch darin, nicht bei der berechtigten Kritik gesellschaftlicher Missstände zu verweilen, sondern in ihren bisweilen biographisch gefärbten Essays immer wieder nach Anschlüssen und Bündnissen zwischen verschiedenen marginalisierten Gruppen und deren Perspektiven und Erfahrungen zu suchen. Die Schoah oder aktuelle antisemitische Anschläge wie der in Halle dienen immer wieder als Referenzpunkte ihrer Überlegungen.   

Wenn sie etwa ihre Reaktion auf das Bekanntwerden der NSU-Mordserie beschreibt und unter Bezugnahme auf die Schoah – ohne diese zu relativieren - von der Notwendigkeit spricht, „das Gedenken und die Würdigung der Opfer des NSU sofort zu wollen“ und bloß nicht wieder „die Jahrzehnte des  bleiernen Verschweigens und Beschweigens durch eine Mehrheitsgesellschaft“ zu erdulden, dann ist das mutig und stark. Dieser eine Satz gibt dem Leid der muslimischen Community in Deutschland mehr Anerkennung, als der deutsche Staat und seine Vertreter*innen seit der Selbstenttarnung des NSU.

Konsequent fordert die Autorin eine „Gemeinschaft der Vielen“, die trotz aller Unterschiede und Differenzen zwischen den Communities die gemeinsamen Interessen gegenüber einer weißen Dominanzgesellschaft hervorhebt und verfolgt, eine breite Bürgerrechtsbewegung, die „das Recht aller zu sein einfordert.“ Ohne Zweifel formuliert sie hier eine wichtige Vision, um den rechten Brandstiftern das Feld politischer Mobilisierung nicht gänzlich zu überlassen.

Allerdings muss hier kritisch nach den Möglichkeitsstrukturen einer solchen Bewegung gefragt werden: Politische Konflikt- und Trennlinien, lassen sich nicht ohne weiteres überwinden. Breite zivilgesellschaftliche Koalitionen erfordern die Erkenntnis, dass jede Gruppe für sich nicht stark genug ist, ihre Ziele und Forderungen zu realisieren sowie die Bereitschaft, Kompromisse auszuhandeln. Die kommenden Monate und Jahre werden in dieser Hinsicht entscheidend sein.

Esther Dischereits Werk gibt nicht nur in dieser Frage essenzielle Denkanstöße, die in unserer turbulenten Zeit ein absolut notwendiger politischer Kompass sind und von allen gelesen werden sollten, die für ein konstruktives gesellschaftliches Miteinander eintreten.

Esther Dischereit Mama, darf ich das Deutschlandlied singen. Politische Texte, Wien: mandelbaum Verlag 2020, 237 Seiten, 19 €.

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Diese Rezension erschien zuerst beim Lower Class Magazine.

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