CC by 3.0: Pawel Ryszawa |
von Paul Winter*
Von Accra, Bamako bis
Kiev, Lampedusa und Tripolis, von 1989 bis heute: Die Realpolitik
Europas ist kein „Friedensprojekt“, sondern ein imperiales
Vorhaben gekleidet in eine friedenspolitische PR-Kampagne.
Pragmatismus und handfeste Eigeninteressen sind seit jeher der wahre
rote Faden europäischer Politik.
Am 19.
April 2015 ertranken über 800 Flüchtlinge unmittelbar vor den Toren
der Festung Europa. Dieses Ereignis ist die (bislang) größte
Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer und keinesfalls ein
bedauerlicher Einzelfall. Erinnern wir uns zurück: Die Herrschenden
Europas übten sich damals im Aufsetzen bestürzter Mienen, sie gaben
sich staatstragend in öffentlichen Auftritten und versicherten eine
Besserung der Lage. Passiert ist fast nichts.
Die
Verantwortlichen für dieses Massengrab hatten die „Experten“ der
Union nach der Katastrophe im April schnell gefunden. Schuld seien
zunächst die südlichen Mittelmeeranrainerstaaten, die es nicht
schaffen würden Border
Management zu
betreiben, wie es im betriebswirtschaftlichen Fachjargon Brüssels
heißt. Besonders Libyen komme seiner Aufgabe im Grenzschutz nicht
nach. Dem grassierenden Schlepperwesen – nach Ansicht der Union die
Wurzel allen Übels – möchte Europa mit einem Militäreinsatz den
Garaus machen. In den letzten Tagen lief die Mission EUNAVFOR MED an,
mit dem Ziel, die Schlepper – und damit das Problem der "irregulären"
Migration – zu bekämpfen. Mit an Bord ist eine eigene PR-Strategie
(Punkt 38f.: Information Strategy),
die Europa im Lichte der Demokratie und des Friedens darzustellen
sucht.
Neben der
Bekämpfung dieser „externen Bedrohung“ und ihrer öffentlichen
Inszenierung hat sich indes wenig getan, im Gegenteil. Die
Unmenschlichkeit erreicht einen neuen Höhepunkt. Während vor
Libyens Küste Fregatten kreuzen und Drohnen surren, stapeln sich die
Leichen Ertrunkener in italienischen Kühlschränken wie totes
Fleisch. In Österreich, einem der reichsten Länder der Welt,
erwachsen Zeltstädte aus dem Boden, Asylanhaltelager quellen über,
Menschen schlafen im Freien und würden von Rechtsextremen am
liebsten „nach Hause“ geschickt. In Länder also, die von Krieg
und Katastrophen heimgesucht werden. Dies alles passiert im Rahmen
einer sogenannten „Wertegemeinschaft“, die sich als
„Friedensprojekt“ versteht.
Friedensgeschichten –
Der Zweck heiligt alle Mittel
Als im
Jahr 2012 der damalige EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso
den Friedensnobelpreis im Namen „aller Europäerinnen und Europäer“ entgegennahm,
lobte das Komitee die beständigen Bemühungen im Umfeld
der europäischen
Idee,
die seit 1945 für Frieden, Wohlstand und Menschenrechte stünde.
Allerdings
lautet die krude Logik dahinter: Stabilität zugunsten
bedingungsloser Markterschließung, die letztlich den
westeuropäischen Zentren nützt.
Der
pragmatische Zugang zu Frieden, Freiheit und Menschenrechten
begleitet die EU bzw. ihre Vorläufer spätestens seit der Gründung
der EGKS. Als Anfang der 1990er-Jahre die Sowjetunion zusammenbrach,
bot sich für den Westen die Möglichkeit einer Markterschließung
ungeahnten Ausmaßes, die einem Goldrausch gleichkam.
Der Zerfall der UdSSR eröffnete neue Märkte für jene im Westen
Europas, die über das notwendige Kapital verfügten, um in den
ehemaligen GUS-Staaten auf Shopping-Tour zu gehen. Die deutsche
Treuhand etwa, die mit dem Verkauf der ehemals volkseigenen
Betriebe der
DDR betraut war, verscherbelte Immobilen und Firmen zu
Niedrigstpreisen an vornehmlich westdeutsche Investoren, die
unermesslichen Reichtum anhäuften.
Die
Intention dieser Politik war eindeutig: Während die Menschen in ganz
Europa Lichterkerzen anzündeten, nahm die vollständige
Durchkapitalisierung ganzer Staaten ihren Lauf. Rigorose Privatisierungs- und Liberalisierungsprojekte bei
gleichzeitiger Aushöhlung des Sozialwesens und ein signifikantes
Auseinanderdriften der sozialen Schere sind bis heute die Folge. Der
Anteil westeuropäischer Firmen liegt in der
Automobilindustrie Polens,Tschechiens, Ungarns und der Slowakei zwischen 91 und 97 Prozent, imBankwesen zwischen 71 und 96 Prozent.
Die Idee
des europäischen Wohlfahrtsstaates wurde an der neuen Peripherie
Europas nicht umgesetzt: Das Wegbrechen der Systemkonkurrenz machte
sozialpolitische Agenden derart obsolet, dass diese spätestens seit
den 1990er-Jahren selbst in den westlichen Zentren sukzessiven
Kürzungen ausgesetzt sind.
Das
Maggie-Thatcher’sche TINA-Prinzip,
gemeinsam mit Wettbewerb, Markterschließung und Wachstum sind das
Leitbild hinter der Fassade eines friedenspolitischen Engagements im
Namen von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten.
CC BY-NC-SA 2.0: Charles Hope |
Von Lampedusa bis
Donezk: Die Krallen der Friedenstauben
Auch im
Ukrainekonflikt phantasieren die Herrschenden Europas von einem
Engagement im Namen des Friedens und der Stabilität. Der mediale
Mainstream inszeniert im gegenwärtigen Krieg einen Kampf europäischer Friedenstauben gegen einen tyrannischen russischen Bären,
der seine Tatze begierig in Richtung einer Ukraine ausstreckt, die
sich demokratischen – und freilich europäischen – Werten
verschrieben sieht. Natürlich gelte es ganz im Sinne des
europäischen Gedankens, dieses Land vor den russischen Usurpatoren
zu beschützen.
Geopolitischer
Realismus kennt allerdings keinen apokalyptischen Kampf des Guten
gegen das Böse. Vielmehr verfügen alleinvolvierten
Akteure jeweils über handfeste Eigeninteressen, ob Russland oder
Europa bzw. die NATO. Ein kritischer Blick hinter die Kulissen
offenbart den Zynismus europäischer Friedenspolitik, der es
gemeinsam mit der NATO um die Vorherrschaft und Ausweitung ihrer
politischen Einflusszone geht.
Gas, Erde, Macht
Europa und
Russland konkurrieren in der Ukraine um die Dominanz im Gas Monopoly ebenso
wie um den Zugriff auf ihre stickstoffreichen Schwarzerdeböden.
Den Übernahmeversuch des
ukrainischen Agrarsektors durch entsprechende Gesetzgebungen trieben
neben dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank auch die
Vereinigten Staaten und besonders die Europäische Union voran. Zielist, Konzernen wie DuPont oder Monsanto Tür und Tor auf dem ukrainischen Agrarmarkt zu öffnen –
selbstverständlich mit all seinen verheerenden Auswirkungen auf
kleinbäuerliche Strukturen und lokale Märkte.
Der Ökonom
und Direktor des kalifornischen Oakland Institutes Frédéric
Mousseau bezeichnete dieses Vorgehen als die „größte Ost-West-Konfrontation seit dem Kalten Krieg“.
Ein politisches Vorhaben, das die Friedensnobelpreisträgerin EU als
treibende Kraft mitlanciert.
Das
Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und der
Ukraine, das der damalige Präsident Viktor Janukowytsch im Jahr 2013
aussetzte, beinhaltete unter anderen auch Punkte zur Liberalisierung
der ukrainischen Wirtschaft. Zudem war dieses neue
„Partnerschaftsabkommen“ in gekonnt europäischer Manier garniert
mit einem humanistischen, demokratischen Duktus, in seinem Kern
jedoch gespickt mit weniger friedlichen Agenden wie gemeinsamen
Militärmanövern zwischen der ukrainischen Armee und
NATO-Streitkräften. Artikel 10 des Abkommens spricht etwa von einer
„intensiven militärisch-technologischen Kooperation“
zwischen der Ukraine und der European Defence Agency. Es ist wenig
verwunderlich, dass sich Russland von europäischen „Friedenstauben“
einigermaßen bedroht fühlt.
Als am 19.
April 2015 800 Flüchtlinge in den Tiefen des Meeres versinken, tritt
dieselbe europäische Doppelmoral wieder deutlich hervor, die auch
die Politik im Ukrainekonflikt bestimmt: Friedenspolitische Rhetorik
an der Oberfläche, pragmatisches Kalkül im Hintergrund.
Europa bewegt und
dann: Schotten dicht!
Unmittelbar
nach der Flüchtlingskatastrophe gaben sich Europas Minister nicht
nur bestürzt, sondern fanden auch bald die Schuldigen,
selbstverständlich außerhalb europäischer Gewässer. Es sei das
brutale Vorgehen der Schlepperbanden, denen das Handwerk gelegt
werden müsse, notfalls auch mit Gewalt.
Die
österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, deren ernste
(im ÖVP-Jargon anständige)
Gesichtszüge besonders staatstragend sind, forderte gemeinsam mit Außenminister Kurz die Auslagerung der EU-Außengrenzenan Drittstaaten.
In sogenannten „Partnerländern“ sollen Anhaltelager für
Flüchtlinge geschaffen werden, sodass diese nicht mehr den Seeweg
nehmen könnten. Der öffentlich-politische Mehrwert des Konzepts der
„Externalisierung“
lautet: Die friedliche, Menschenrechte achtende Union muss sich nicht
mehr mit Negativ-Schlagzeilen auseinandersetzen. Die Verantwortung
über die Schicksale tausender Menschen sourct sie lieber an
Drittstaaten aus, deren einzige Diktion lautet: Schotten dicht!
Allerdings
verschwieg Mikl-Leitner, ebenso wie ihre Kolleginnen und Kollegen in
anderen EU-Ländern, dass es jene Externalisierungs-Konzepte schon
längst gibt. Zumeist wickelt die Union diese über
sogenannte Mobilitätspartnerschaften ab,
die wiederum (monetäre) Sonderleistungen für Partnerländer wie
Marokko, Tunesien, Moldawien oder Libyen beinhalten.
CC BY-NC-SA 2.0: Vojkan |
Bevor eine
europäisch angeführte NATO-Koalition Libyen ins Chaos bombte, hatte
das Land unter dem ehemaligen Präsidenten Gaddafi verschiedene
Abkommen mit Italien unterzeichnet. Der Oberst war gewissermaßen
ein Gatekeeper für
"irreguläre" Migration gen Europa. In Libyen gab es zahlreiche
Asylanhaltelager, Italien tauschte über
ein Rückübernahmeabkommen gestrandete
Flüchtlinge gegen libysches Öl und Gas. Die NGO Amnesty
International meldete schwerwiegende Menschenrechtsverstöße in
libyschen ebenso wie in griechischen, italienischen und maltesischen
Lagern. Da diese Delikte jedoch auf keine breite öffentliche
Wahrnehmung stießen, sahen die EU-Verantwortlichen offenbar keinen
Handlungsbedarf.
Stattdessen
gibt es für sogenannte EU-Partnerländer finanzielle und
infrastrukturelle Unterstützung beim
Bau noch höherer Grenzzäune, für noch mehr Sicherheitspersonal,
schnellere Patrouillenboote und großflächigere Überwachung. Im
EU-friedenspolitischen Verständnis werden diese
Maßnahmen selbstverständlich als Entwicklungshilfe deklariert.
Europa
bezeichnet sein Vorgehen als präventiv, da es "irreguläre" Migration
durch die Zerstörung des Schlepperwesens sowie die verstärkte
Grenzsicherung bereits im Keim unterbinden würde. Diese
Herangehensweise ist an Naivität und Doppelmoral kaum mehr zu
überbieten. Die „Agenda-Setterin“ EU ist offenbar nicht in der
Lage, einen einfachen kausalen Schluss zu ziehen:
Die
logische Konsequenz, die aus verstärkter Überwachung der
Außengrenzen resultiert, ist, dass Flüchtlinge immer waghalsigere
Unterfangen in Kauf nehmen, um die Grenzen der Union zu erreichen.
Alleiniges „Border Management“ und ein bisschen Entwicklungshilfe
werden die verzweifelten Versuche jener nicht unterbinden, die sich
in der Hoffnung auf ein gelingendes, würdevolles Leben gen Europa
aufmachen. Der EU-ko-finanzierte Ausbau des Grenzschutzes rund um die
spanischen Exklaven Ceuta und Meilla in Marokko führte letztlich
dazu, dass Menschen aus Afrika immer riskantere Routen über die Hohe See ansteuern.
Um sich
den tatsächlichen Ursachen "irregulärer" Migration zu widmen, müsste
das sogenannte „Friedensprojekt“ eingehende Selbstkritik üben
und vor allem seine Eigenverantwortung anerkennen: Europa drängt
durch seine Außen-, Migrations- und Handelspolitik die Menschen in
seine Richtung und riegelt dann die Grenzen ausnahmslos ab.
Keine Ursachenanlyse,
keine Selbstkritik
In
einem YouTube-Video stellt
sich der schwedische Professor Hans Rosling die Frage, weshalb
Bootsflüchtlinge eigentlich den gefährlichen Weg über das Meer in
Anspruch nehmen, anstatt sich in ein Flugzeug zu setzen und den
Asylantrag am Zielflughafen zu stellen. Die Überfahrt wäre
sicherer, kostengünstiger und zeitsparender. Die Antwort ist simpel:
Die EU-Direktive 2001/51/EC verpflichtet
jedes Verkehrsunternehmen dazu, jene Menschen auf Kosten des
Unternehmens wieder in das Herkunftsland zurückzubringen, die nicht
über die notwendigen Dokumente zur Einreise verfügen.
Als
Konsequenz ist es Menschen aus den Herkunftsländern unmöglich, eine
legale – und vor allem sichere – Reiseroute Richtung Europa zu
nehmen, da sich Verkehrsgesellschaften schlichtweg weigern, Verluste
in Kauf zu nehmen. Weiters zerstört das sogenannte „Friedensprojekt
Europa“ aufgrund seiner Handels- und Agrarpolitik lokale Märkte
bzw. Lebensgrundlagen. Hierzu einige Beispiele von vielen:
Gesamt-Afrika: Das
sogenannte Landgrabbing im
großen Stil, das vor allem auch China und Saudi-Arabien betreiben,
führt zur Zerstörung der Lebensgrundlagen lokaler Bauern. Auf ihren
Weideflächen bauen internationale Investorenkonsortien nunmehr
„Cash-Crops“ wie Palmöl oder Soja an oder leiten die lokale
Wasserversorgung um, zur Bewässerung der gigantischen Anbauflächen.
Wasserknappheit, Landflucht und Desertifikation sind das Ergebnis.
Senegal:
2014 unterzeichnete Senegal ein EU-Fischereiabkommen, das
es der EU-Hochseeflotte ermöglichte, in senegalesischen
Hoheitsgewässern Thunfisch (und auch alles andere) zu fangen. Im
Senegal arbeiten in etwa 600.000 Menschen in der Fischindustrie,
deren Existenz auf dem Spiel steht.
Somalia:
Trotz Verbots kreuzen vor der Küste des kriegsgebeutelten Somalia
europäische Trawler und fischen die Bänke des Landes leer, sodass
sich Teile der Bevölkerung gezwungen sehen, in die Piraterie zu
gehen. Die Europäische Union reagierte wie gewohnt pragmatisch. Mit
der Mission „Atalanta“
entsandte sie Marineeinheiten zur Bekämpfung der Piraterie, die sie
mit dem Nebensatz „zum Schutz humanitärer Hilfslieferungen“
garnierte.
Marokko
und Westsahara:
Vor der Küste der Westsahara, die Marokko seit Jahrzehnten
völkerrechtswidrig besetzt, pokern die marokkanischen Besetzer
gemeinsam mit der EU um das Ausbeutungsrecht der reichen Fischgründe
– die einheimische saharauische Bevölkerung sieht sich um den
Ressourcenreichtum ihres Landes betrogen. Marokko und die Europäische Union verlängerten im Jahr 2011 das Fischereiabkommen.
Damit profitieren weder marokkanische noch saharauische Fischer vom
Bestand, sondern die EU-Hochseeflotte sowie das marokkanische
Herrscherhaus und dessen Adjutanten.
Ghana:
Ghana unterzeichnete im Jahr 2008 das „Voluntary Partnership Agreement“
mit der Europäischen Union, die sich in der Region Westafrika gerne
als Verteidigerin von Demokratie und Menschenrechten sieht. Das
Abkommen sollte den illegalen Handel mit Tropenholz regulieren. In
der Praxis stieg der Preis für lokales Holz dermaßen an, dass Ghana
mittlerweile gezwungen ist, Holz einzuführen, mit entsprechenden
Auswirkungen auf den lokalen Markt.
Westafrika
bzw. Gesamt-Afrika:
Zahlreiche Länder Afrikas importieren europäische Agrarerzeugnisse
in rauen Mengen, etwa Milchpulver. Im April 2015 wurde die
EU-Milchquote für Bauern abgeschafft. Dies bedeutet, dass der
hochtechnisierte europäische Agrarsektor die legislative Basis zur
Überproduktion erhält. Der österreichische Landwirtschaftsminister
Andrä Rupprechter sinnierte von „boomenden Möglichkeiten“
für den chinesischen Markt. Was des einen Freud, ist des anderen
Leid: Afrikanische Bauern sind nicht in der Lage, mit der
übersubventionierten, hochtechnisierten europäischen
Agrarwirtschaft zu konkurrieren, die Aufhebung der EU-Milchquote wird
diesen Umstand verschärfen. Die Idee eines fairen Wettbewerbs wirkt
angesichts dieser Entwicklungen wie ein Ammenmärchen aus der Ära
Reagan-Thatcher.
Ein
anderer Exportschlager der EU, besonders nach Westafrika,
ist tiefgefrorenes
Hühnerfleisch.
Während der Kunde in Europa fast ausschließlich Filetstücke
bevorzugt, werden die restlichen Teile des Huhns nach Afrika
exportiert, zu Chicken Nuggets oder Suppenhühnern verarbeitet und zu
Dumping-Preisen am lokalen Markt feilgeboten. Die Auswirkungen auf
die einheimischen Agrarsektoren sind verheerend und treiben
zahlreiche Bauern in den Ruin.
Reaktionäre Attitüde:
Kontrolle "irregulärer" Migration
Sogenannte
Migrationsexpertinnen und -experten sprechen im Falle derartiger
Entwicklungen von „Push-Faktoren“, also Gründen, die Menschen
dazu bewegen, ihre Heimat zu verlassen. Die Europäische Union ist
wesentlich an der Zerstörung der Lebensgrundlagen vieler "irregulär"
Migrierender beteiligt. Anstatt sich dieser Eigenschaft gewahr zu
werden, finanziert die Union den Bau höherer Zäune und die
Anschaffung schnellerer Boote.
Angesichts
dieser Entwicklungen führt auch die Forderung vieler linker bzw.
liberaler PolitikerInnen, einen humanitären Korridor für
Flüchtende einzurichten, nicht an die Wurzeln der Problematik.
Friedensnobelpreise –
In guter Gesellschaft
Mit ihrer
Doppelmoral befindet sich die EU in guter Gesellschaft. Barack Obama,
dem in vorauseilendem Gehorsam ebenso der Friedensnobelpreis
verliehen wurde, ist genauso für das tagtägliche Sterben
Unschuldiger verantwortlich wie die Europäische Union. Die eine
durch ihr zynisches und passives Verhalten an ihren Außengrenzen
sowie ihre neoliberale Politik, Barack Obama durch seine als gezielte
Tötungen bezeichnete Drohnenkriegskampagne.
„Targeted
Killing“ nennt die CIA jene unbemannten Flugeinsätze, die
vornehmlich im Jemen und Pakistan, aber auch anderswo geflogen
werden, um unliebsame Feinde aus der Luft – vermeintlich schnell,
effizient und friktionsfrei – auszuschalten. Der Journalist Hannes
Hofbauer beschreibt die unbemannten Kampfjets als moderne Fallbeile.
Eine Kampfdrohne schwebt in sicherer Höhe über ihrem Ziel, der
Exekutor sitzt vor einem fernen Bildschirm, die Tötung funktioniert
völlig entpersonalisiert per Knopfdruck. Gerechtigkeit erwirkt durch
eine unsichtbare Hand und umgesetzt durch das Abfeuern einer
„Hellfire“-Rakete, die leider weitaus weniger gezielt ist, wie es
der Name der CIA-Operation vermuten ließe: Einem Bericht des Guardian zufolge
wurden seit der Drohnenkampagne, angeführt vom
Friedensnobelpreisträger Barack Obama, 41
sogenannte Ziele liquidiert.
Dabei fanden 1147 Zivilistinnen und Zivilisten ihren Tod, die
als Kollateralschäden Erwähnung
in den Missionsberichten finden. Es ist kaum verwunderlich, dass
diese übergeordnete Rechtsprechung durch die (fehlerhafte)
High-Tech-Guillotine auf Unverständnis, Wut und Verzweiflung in den
betroffenen Ländern stößt.
Modernes Fallbeil: Predator-Drohen mit Hellfire-Bewaffnung in Irak |
Auch die
EU und besonders die Grenzschutzagentur FRONTEX mit ihren
umstrittenen Einsätzen sind unmittelbar an der Tötung von
Migrantinnen und Migranten beteiligt. Die im wahrsten Sinne des
Wortes allmächtig klingende Mission Triton ist
zu einem hohen Teil mitverantwortlich für den elenden Tod
zehntausender Menschen, sei es durch unterlassene Hilfeleistung oder
rigorosen Grenzschutz oder sogenannte Push-Back-Operationen.
Die Ausweitung ihres Mandates wird nur kurzfristig etwas an der
Situation ändern, solange die Weltöffentlichkeit ihre flüchtigen
Augen auf das Mittelmeer richtet. Laut der Organisation IOM
(International Organisation for Migration) verstarben seit dem Jahr 2000 ungefähr 22.000 Menschen beim Versuch, auf "irregulärem" Wege europäischen Boden zu erreichen.
Diese Zahl wird angesichts der katastrophalen Lage in Irak, Syrien
und anderswo erheblich steigen.
In beiden
Fällen also handeln die Friedensnobelpreisträger in derselben
Herangehensweise: Zunächst zerstören sie Lebensgrundlagen oder
destabilisieren ganze Regionen, um im Anschluss daran mit einem
eiskalten Pragmatismus aber dilettantischem Vorgehen auf die
selbstverursachten Probleme zu reagieren. Die Mär der friedlichen,
wohlwollend agierenden Protagonisten dient in letzter Instanz der
Legitimation ihrer letalen Politik.
Im Falle
der Flüchtlingskatastrophe muss das „Friedensprojekt Europa“
dadurch keine eingehende Selbstkritik üben, seine Politik nicht
hinterfragen, und kein Menschenrecht auf Migration einfordern. Sie
muss auch nicht die Grenze ihrer Festung in Frage stellen, die sich
wie eine Schlinge um die Hälse jener legt, die in der Hoffnung auf
ein würdevolles Dasein Richtung Europa aufgebrochen sind.
Non-Zonen
In seinem
dystopischen Roman Globalia beschreibt
der französische Autor Jean Christophe Rufin die scheinbar perfekte
globale Gesellschaft in nicht allzu ferner Zukunft. Die Reste der
Menschheit haben sich nach Jahren des Krieges und der Katastrophen
unter schützenden Glaskuppeln versammelt. Das Ressourcenproblem ist
gelöst, die ökologische Frage ebenso, ökonomischer und politischer
Liberalismus haben endlich zusammengefunden, der Krieg gegen die
Armut ist gewonnen und alle sind in der Lage, das zu tun, was sie
möchten – zumindest scheinbar.
Der
kategorische Imperativ Globalias ist der grenzenlose Individualismus:
Verwirkliche
dich selbst!
Die
perfekte Demokratie in einer gigantischen Seifenblase zeigt
allerdings ihre Einschränkungen, das Leben ist vollständig
reguliert. Etwa regnet es unter der Glasglocke nach genauen Vorgaben,
es gibt ein Ministerium
für gesellschaftliche Harmonie,
Schwangerschaften sind im Sinne einer wirksamen
Bevölkerungssteuerung meldepflichtig
und das Büro des Gesellschaftsschutzes besitzt
die Möglichkeit der uneingeschränkten Überwachung aller
Bürgerinnen und Bürger. Freiheit bedeutet in Globalia zunächst die
Freiheit, konsumieren zu dürfen und zu arbeiten. Innerhalb dieser
scheinbar egalitären Gesellschaft gibt es Gleichere
unter Gleichen,
die im Hintergrund die Geschicke der globalen Gesellschaft lenken.
Die Menschen Globalias wurden zu teilnahmslosen Konsummaschinen, die
ihr Dasein unhinterfragt hinnehmen: Jede Woche finden zwar mehrere
basisdemokratische Abstimmungen zu allen möglichen Themen statt, die
Wahlbeteiligung klettert jedoch selten über die Fünf-Prozent-Marke.
Bröckelt
die Fassade der scheinbar heilen
Welt,
verfügen die Herrschenden Globalias über einen unschlagbaren
Vorteil, der den Fortbestand des gesamten Systems garantiert: In
regelmäßigen Abständen kommt es zu terroristischen Anschlägen
vonseiten einer angeblichen Geheimorganisation, die in den
sogenannten Non-Zonen ihr Dasein bestreitet. Außerhalb der
Glaskuppel haben einige Menschen überlebt, die in lebenswidrigen
Umständen existieren, verursacht durch Ausbeutung, Umweltzerstörung
und Bombardements durch die Armee Globalias, die gezielten Tötungen
sehr ähnlich sind. Die Terrorbedrohung aus den Non-Zonen bewirkt,
dass sich die Bewohner der Glaskuppeln in einer gekünstelten
Sicherheit durch eine inszenierte Bedrohung wägen und blindes
Vertrauen in den Kontrollapparat der Herrschenden stecken.
Wir
erleben gerade das Hochziehen einer Glaskuppel an den Rändern
Europas, basierend auf einem westlichen Selbst- und Fremdverständnis.
Das Schengener Abkommen ermöglichte den freien Personen-, Waren- und
Dienstleistungsverkehr innerhalb der EU, gleichzeitig schottete sich
die Union mit der Gründung der Grenzschutzagentur FRONTEX hermetisch
von außen ab.
Das
sogenannte „Friedensprojekt“ konstruiert sich selbst durch einen
„unzivilisierten Rest“ und unterteilt die Erde in Nord und Süd,
in Innen und Außen, in Schwarz und Weiß, in Freiheitskämpfer und
Terroristen, in Licht und Dunkel, in den Westen und den Rest.
Europa baut sich durch seine abschottende Flüchtlingspolitik eigene
Non-Zonen – die Mitgliedschaft im Club des „Friedensprojekts“
ist exklusiv und kann mitunter das Leben kosten.
Die
Abgrenzung vom anderen, unzivilisierten Falschen, lässt das Eigene
als richtig und rechtens hinnehmen, weil es
zivilisiert, demokratisch und friedlich erscheint, selbst wenn dem
nicht so ist.
Um in
Globalia eine Zigarette rauchen zu dürfen, muss man einem Verein
beitreten, selbiges gilt für das Lesen von Büchern. Weil dies eben
Teil der perfekten demokratischen, sauberen und anständigen Ordnung
Globalias ist, die sich von den Non-Zonen
durch Zivilisation unterscheidet,
hinterfragen dies die meisten Bewohnerinnen und Bewohner nicht.
Die
Überregulation und indirekte Steuerung der herrschenden Elite nehmen
die Glaskuppel-Demokraten willfährig hin. Immerhin brauche auch eine
perfekte Demokratie gewisse Spielregeln.
Und sie
grasen weiter wie die Schafe.
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*Paul Winter ist Redakteur bei shabka.org und Mitarbeiter beim Wiener Verlag Promedia. Außerdem denkt er gerne quer zu Themen wie Bildung, Kultur und "Entwicklung".
Dieser Artikel ist zuerst auf shabka erschienen.
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