Wie viele Erfolgs-Kanacken verträgt das Land?
Text: Hakan Karakaya
Foto: Robert Westrich
„Ich bin zwar nicht deiner Meinung, aber ich würde mein Leben dafür geben, damit du sie frei äußern kannst!“. Mit einer unglaublichen Ehrlichkeit und dem geschickten Umgang mit Klischees feierte das Berliner Erfolgsstück „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje im Theaterhaus Stuttgart am 15. Januar 2013 eine weitere glanzvolle Darbietung. Das Stück wird seit dem 12. Oktober 2012 vom nomadtheatre ensemble unter Regie von Daniel Klumpp aufgeführt.
Der Theaterunterricht
beginnt und die Lehrerin, gespielt von Elif Veyisoğlu, verkündet
das Thema des Projekttages.
Es geht um Schillers erstes
veröffentlichtes Drama „Die Räuber“ und um „Kabale und Liebe“
aus der Epoche des Sturm und Drang. Die sieben Schülerinnen und Schüler, überwiegend mit Migrationshintergrund, ignorieren die Lehrerin völlig und Streitigkeiten entfachen. Als der Lehrerin Frau Kelich
bei einer Auseinandersetzung um den Inhalt der Tasche eines Schülers
eine geladene Waffe in die Hand fällt, spitzt sich die Lage
dramatisch zu. Im Gefecht um die Waffe löst sich ein Schuss, der den
Schüler an der Hand verletzt. Panik bricht aus und die Lehrerin
verliert die Nerven. Unter Waffengewalt zwingt Sie alle Schülerinnen und Schüler,
sich flach auf den Boden zu legen und macht mit einem
unmissverständlichen „Ihr haltet jetzt einmal eure Fresse!“
klar, dass sie es ernst meint. Mit der nun eingekehrten Ruhe fährt
sie paradoxerweise mit Schillers Idee von ästhetischer Erziehung
fort. „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, daher
werden auch die Schülerinnen und Schüler nach und nach auf die Bühne gezwungen, um
Szenen aus Schillers Stücken zu spielen.
Dem Publikum bietet sich
ein groteskes Bild aus Jugendlichen, die der deutschen Sprache kaum
mächtig sind und dabei unter Todesangst verzweifelt versuchen, Karl
Moor und seinen Bruder Franz sowie Ferdinand und Luise auf die Bühne
zu transportieren. Dabei wird jeder rebellische Eingriff der Schülerinnen und Schüler
durch die hysterische Lehrerin gnadenlos unterbunden. Schnell werden
den Schülerinnen und Schülern die Parallelen zwischen Schillers Stücken und den
Problemen der heutigen Gesellschaft klar. Gestörte Verhältnisse zu
Vätern werden ebenso diskutiert, wie frauenfeindliche Machos,
Gewaltausbrüche und Kopftuch tragende, scheinbar unterdrückte
Mädchen. Sie lernen, dass sie was aus Ihrem Leben machen müssen,
damit die Bemühungen ihrer Eltern in Deutschland ein besseres Leben
aufzubauen einen Sinn haben. Doch wie viele Erfolgs-Kanacken verträgt
das Land? Dies ist gleichzeitig ein Hilfeschrei in einem
schalldichten Raum. „Was wird aus mir, wenn das hier zu Ende ist?“.
Das Theaterstück „Verrücktes Blut“ zeigt mit dem Finger auf
soziale Benachteiligungen und ist gleichzeitig ein Appell an
Migrantinnen und Migranten, als auch an die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland,
eingefahrene Einstellungen und Sichtweisen zu überdenken.
Die Darstellerinnen und Darsteller, die
sämtliche Klischees über Migrantinnen und Migranten unverblümt bedienen, spielen
ihre Rolle dabei sehr authentisch und überzeugend, mit vielen
witzigen aber auch gefühlvollen Momenten. Insbesondere Elif
Veyisoğlu lebt die Rolle der Lehrerin auf der Bühne und überträgt
jede Emotion auf den Punkt, wodurch sie die Zusehenden in ihren Bann
zieht. Die Glaubhaftigkeit dieses Stücks entsteht aber auch daraus,
dass fast jede einzelne Schauspielerin und jeder einzelne Schauspieler aus dem
Erfahrungsschatz des eigenen Migranten-Daseins schöpfen kann. Mit einer
spürbaren Freiheit ziehen die Schauspielerinnen und Schauspieler in die Szenen und
dekonstruieren die Gedankenmuster und Bilder, bezogen auf das Thema
Migrantenjugend, die sich bis dahin in den Köpfen des Publikums
gefestigt hatten. Durch die Konzentration
auf das Wesentliche beim Bühnenbild, öffnet Daniel Klumpp den Besucherinnen und Besuchern außerdem einen spannenden Raum, in dem sich das Publikum
voll und ganz der Geschichte hingeben kann.
Mit „Verrücktes Blut“
ist dem Regisseur Daniel Klumpp und seinem Ensemble ein unglaublich
spannendes und kurzweiliges Stück gelungen, dass sehr zu empfehlen
ist.
Die nächsten
Spieltermine finden am 25.03.2013 und am 26.03.2013 im Theaterhaus Stuttgart statt.
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