Brief für Gaza

von Imad Mustafa

 

Vorbemerkung: Der folgende Text entstand während des Gaza-Massakers im Sommer 2014. Er lag zwei Jahre in der Schublade, weil er nicht auf diesem Blog veröffentlicht werden konnte, ohne sich selbst der staatsraisonalen Inquisition auszusetzen. Erst 2016, im Zuge der transmedialen Migration des Blogs, wurde er beim Unrast Verlag im Migrantenstadl-Buch veröffentlicht, gut versteckt . Heute muss er wieder veröffentlicht werden. Der Genozid in Palästina lässt für persönliche Erwägungen keinen Raum mehr. Er wird mit wenigen, behutsamen Veränderungen veröffentlicht. From the river to the sea, no war will we see! From the river to the sea, Palestine will be free! 


Was es heißt, als Palästinenser im Exil geboren zu sein und da zu leben, tritt immer dann mit unausweichlicher Vehemenz in unser Bewusstsein, wenn wir für unseren Ungehorsam wie unartige Kinder bestraft werden. Der „Konflikt“ eskaliert, heißt es dann in den internationalen Medien.

Es sind schreckliche Momente des Erkennens, des Zu-Sich-Kommens, die ein wohltuendes Gefühl der Distanz und Loslösung ersetzen durch Beteiligung und Mitleidenschaft. Es sind Momente der Konfrontation mit der eigenen Geschichte, die uns herausreißen aus der manchmal befreienden Lethargie und des nicht-wissen-wollens, aus dem manchmal vorherrschenden Selbstbetrug, der gerne so tut,  als sei unsere je eigene Geschichte nicht untrennbar auch eine Geschichte eben jenes „Konflikts“.

So geht es uns allen, die wir im Exil geboren sind – und wohl nicht nur uns. Wir alle haben eine Geschichte, die mehr oder weniger schmerzhaft ist, die uns mehr oder weniger bewusst ist und uns früher oder später unvermeidlich als Mauer entgegentritt und unsere Leben verbarrikadiert.

Immer öfter, wenn ich junge Palästinenser hier in Deutschland erlebe, merke, sehe und fühle ich diese Mauer, diese Last, die uns zunehmend einengt. Es ist eine unsichtbare Mauer, die uns dennoch dazu zwingt, nötigt, unterdrückt, sich doch endlich zu bewegen, etwas zu tun, aufzuschreien und sich einzusetzen. Selbst nach Jahrzehnten im Exil sind wir noch da, unserer Selbst bewusster vielleicht, als je zuvor. Jeder Krieg, jeder Tote, jede gedemütigte Seele und jedes Angesicht von uns, das in den harten Staub der Militärbesatzung gedrückt wird, trägt zu diesem Bewusstsein bei, formt und gestaltet es, hält es nicht nur am Leben, sondern hilft ihm immer wieder, zu sich selbst zu kommen – unabhängig von unserem Aufenthaltsort auf der Welt.

Ich sehe, wie wir unsere ganze kreative Energie in Palästina stecken, unser ganzes Leben der "Sache" widmen, wie wir zu sagen pflegen. Es ist stolz manchmal, Teil eines unbeugsamen Kollektivs zu sein, das die Geschichte und das Schicksal anzuerkennen verweigert, sich im Gegenteil dagegen auflehnt, immer heftiger sogar, je länger die Unterdrückung und Vertreibung, der Genozid anhält. Immer öfter sind es aber auch Trauer und Verzweiflung, die sich meiner bemächtigen ob dieser Seelen, die sich mit ihren Gedanken, Worten, Schriften, Bildern, Filmen und Musikstücken für Palästina aufopfern, verbrauchen, verbrennen, während das Gift der besetzten Zeit, der belagerten Geister, der gehässigen Machtverhältnisse und teilnahmslosen Anderen die Körper von innen her angreift und verdorrt zurücklässt nach einem langen Leben des Ringens und der Verausgabung, an dessen Ende nur die Erinnerung an ein verlorenes zu Hause steht, das vielleicht doch nicht wiederkehrt, wie ich fürchte.

Für uns ist der Zionismus nie eine harmlose Nationalbewegung gewesen, sondern mörderische Realität. Der Zionismus hat aus Menschen Eingeborene gemacht, Kolonisierte, Fremdbestimmte. Unzählige Aussagen seiner Vertreter bis in die heutige Zeit belegen den Willen zu Dominanz und Kontrolle über Land und Menschen. Die Eingeborenen, die kulturlosen Araber weichen idealerweise. Von Anfang an war das Wort vom "Land ohne Volk für ein Volk ohne Land" Ausdruck eines weißen, europäischen, rassistischen und kolonialistischen Siedlungsprojekts, dass das Land von den Eingeborenen säubern wollte und eben nicht ein Irrtum, demzufolge das Land menschenleer sei. 

Zum Unglück der Zionisten blieb das Projekt unvollendet. Also begannen sie mit der Einrichtung von Ghettos, Kontrollpunkten und schließlich, als letzter Schritt, wurde die unsichtbare Mauer, die wir schon unser ganzes Leben mit uns tragen, unumwunden materielle, monströse Realität. Und während eine imaginierte, existentielle Gefahr, die von den Eingeborenen ausgehe, wieder und wieder beschworen wird, um die absolute Kontrolle, die bis in die nackten Fasern der Unterjochten dringt, zu rechtfertigen, wird nie darüber berichtet, dass es Israel ist, das die Palästinenser nie anerkannt hat, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser bekämpft. Sie werden verleugnet, ihre Existenz als Kollektiv, gar als Menschen negiert. Oder erinnert sich hier in Deutschland irgendwer an die Worte der israelischen Premierministerin Golda Meir, als sie, nach den Palästinensern befragt, antwortete: „So etwas wie die Palästinenser gibt es nicht. Sie haben nie existiert.“ Oder an Menachem Begins Ausspruch, die Palästinenser seien „zweibeinige Biester“? Yoaw Gallants Ankündigung zu Beginn des Genozids, Israel habe es in Gaza mit "menschlichen Tieren" zu tun und werde entsprechend handeln, schließt den Kreis.

Und dennoch ist es der Kolonisierte, dessen Widerstand gegen diese Verhältnisse als Gefahr und illegitime, terroristische Gewalt diffamiert und verurteilt wird. Es ist der Kolonisierte, der in diesem Weltbild uns bedroht, unsere Werte, unsere Freiheit, unsere Demokratie, unsere Art zu leben. Es ist der Kolonisierte, der in seinem Hass auf uns nicht zu erklären – „Warum hassen sie uns“? - und deshalb nur durch Zwangsmaßnahmen zu bändigen ist. Es ist der kolonisierte und mysteriöse Araber, Muslim, der in seiner unzivilisierten, irrationalen Wildheit eine Bedrohung für uns darstellt. Es ist Israel, das in diesem Weltbild die Rolle der Zivilisation einnimmt, des Fortschritts und der Vernunft - oder wie es Ehud Barak einst so elegant ausdrückte, Israel ist „die Villa im Dschungel“.  


Aber ich glaube, dass diese Punkte in der Zukunft keine Rolle mehr spielen werden, da nun überdeutlich geworden ist, wohin Israel mit seinem Anspruch will: Ein Palästina wird es nie geben. Dieser unmenschliche Angriff auf Gaza ist Israels Antwort auf die Zwei-Staaten-Lösung. Oder auf irgendeine Lösung. Dieser Angriff ist Israels Antwort auf die politische Einheit der Palästinenser, die immer dann am gefährlichsten für Israel wurden, wenn sie sich an vereinbarte Waffenruhen hielten oder auf der internationalen Bühne politische Anerkennung erfuhren und nicht, wenn sie Israel militärisch angegriffen haben.

Dennoch fordern verirrte deutsche Seelen, dass in der Analyse und Beurteilung dessen, was vor Ort passiert, Ausgewogenheit bestehen solle, indem man „beide Seiten betrachte“; sie fordern, dass Symmetrie da bestehen solle, wo Symmetrie Ausdruck wahnhafter Realitätsverzerrung wäre. Gleichzeitig erhebt sich oft der tadelnde Vorwurf, der sichtbar nur in einer Geste oder einem Blick wird und sich damit selbstvergewissernd über mich erhebt, dass ich als Palästinenser qua Existenz nicht ausgewogen und eben voreingenommen sei, deshalb besser nicht spreche. Und über deren Voreingenommenheit, die sich als emphatische Ausgewogenheit geriert, soll ich schweigen. Genauer betrachtet wird Empathie in diesem Zusammenhang nur Juden und dem jüdischen Staat beschieden als Absolution für den toten Großvater, für die tote Großmutter, die den Judenmord nicht verhindert, sich vielleicht daran beteiligt haben.

In sozialen Medien, in Leserforen will sich jeder auskennen plötzlich. Jeder hat etwas zu sagen. Zu Gaza. Zur Besatzung. Viele vergessen dabei, dass es Menschen sind, über die sie sprechen. Ich lehne das ab. Ich will nicht, dass irgendwelche Menschen, die sich dazu berufen fühlen, etwas dazu sagen. Vor allem nicht hier in Deutschland. Vor allem nicht Deutsche. Eine deutsche Journalistin fragte mich einmal, warum Palästinenser ihre Kinder gezielt in den Tod schicken, warum sie sie nicht zurückhalten. Ganz im Ernst und „als Mutter“ fragte sie das. Würde sie das auch einen Israeli fragen? Warum er seinen Sohn, seine Tochter zum Dienst ins Westjordanland und nach Gaza schickt? Oder bleibt das Privileg einer solchen Frage nur einem Palästinenser vorbehalten?

Den Palästinensern in Deutschland bleibt nichts Anderes übrig als die deutschen Verharmloser und Apologeten zu fragen: 

Sind Euch Eure schlechten Gewissen, deren Beruhigung und die Seelenruhe Eurer toten Tätergroßeltern wichtiger, als die unter der Besatzung und Entmenschlichung erniedrigten Palästinenser heute? 

Gilt das Leben der Palästinenser wirklich so wenig, es immer wieder in eine perverse Gleichung hinein zu pressen, deren Ergebnis nicht einmal Mitleid für sie zulässt, auch dann nicht, wenn sie tausendfach umgebracht werden?

Gilt das Leben der Palästinenser wirklich so wenig, dass ihre Toten selbst dann noch in den Konjunktiv gesetzt werden, wenn es sich um bestätigte Tote handelt?

Gilt das Leben der Palästinenser überhaupt etwas? 

Wer ist bereit, an der Stelle einer Palästinenserin oder eines Palästinensers verhaftet, geschlagen und erniedrigt zu werden? 

Erschossen?

Bombardiert?

Ungestraft?

Wer in Deutschland ist bereit, nur eine Nacht in Gaza zu verbringen, während draußen sich die entfesselte Militärmaschinerie eines Industriestaates in einer weiteren Strafexpedition gegen "menschlichen Tiere" engagiert? 

Ich muss nochmals fragen: Habt Ihr Eure eigene, schreckliche Mauer vergessen, deren Ende ihr gerade erst zum fünfundzwanzigsten Mal bejubelt habt und die Euch Jahrzehnte genommen hat, dass ihr angesichts einer noch viel größeren Mauer die Augen verschließt? Gestern hieß das beschönigend „antifaschistischer Schutzwall“, heute beruft sich Israel auf die „Sicherheit vor Terrorismus“. Doch gestern wie heute können Worte die schreckliche Wahrheit nicht verbergen. 

Was machen all die Palästinenser aus ihrer Verzweiflung um die deutschen Weißwascher der Tätergeneration, die nicht ansatzweise ahnen oder einsehen, dass die Palästinenser und deren Schutz genauso ihre Aufmerksamkeit verdienen, ja, dass sie genauso Teil ihres historischen Schuldkomplexes sein müssten? Was machen aus dem Keil, den sie zwischen Deutschland und uns treiben? 

Es treibt mir die Schwere ins Gemüt, in die Arme und Beine, ins Denken, erscheint mir als zweite und dritte Mauer, die mich zusätzlich belagert, vor mir tänzelt und mich daran hindert, mein Leben unbeschwert zu leben, mir das Gefühl gibt, selbst hier, im sicheren und wohlhabenden Deutschland intellektuell belagert zu sein, unter Kontrolle zu stehen und dem gleichen Blick ausgesetzt zu sein, wie die Menschen in Palästina, einem Blick, der selbst in der Dunkelheit der Nacht meine Gedanken mitliest, protokolliert und mir daraus einen Strick dreht, weil ich die Besatzung nicht als gottgegeben und unabänderlich hinnehme, sondern ausspreche, was ist.

Ich fühle, wie diese Verzweiflung mich zu verzehren beginnt, wie ich nichts dagegen tun kann, außer diesen Brief zu schreiben, der mir wie ein Narkotikum für kurze Zeit Ruhe verschafft, bis ich die nächste E-Mail, den nächsten Artikel, den nächsten Beitrag zu sehen oder hören bekomme, in dem mir suggeriert werden soll, dass die Palästinenser ja selber schuld an den Toten und der Besatzung seien, weil sie Israel aus Judenhass zerstören wollten und somit ultimativ Opfer ihres eigenen Hasses seien. Auch darin spiegelt sich auf zynische und selbstgerechte Weise die Verachtung palästinensischen Lebens wider, die bereits vor Jahrzehnten in einem Ausspruch der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir ihren Ausdruck fand, als sie den Palästinensern nicht verzeihen konnte, „dass sie uns zwingen, ihre Kinder zu töten“, und die Frieden mit „den Arabern“ erst dann für möglich hielt, „wenn sie ihre Kinder mehr lieben, als sie uns hassen.“

Ich würde gerne mit etwas Hoffnung schließen, mit einem Satz, der nicht getränkt ist mit Verzweiflung und Trauer, Wut und Depression. Gegen die Verhältnisse, gegen die herbeigebombte Vernichtung einer Kultur. Aber für Gaza. Für die Lebenden. Und die Toten:

Wir lieben das Land
wie sonst niemand.

morgens,
abends,
vor dem Morgen,
nach dem Abend
und am Sonntag.
 
Mohammed al-Saghir al-Wild Ahmad (Tunis)

 

 


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