Paradoxer Zustand -- NSU-Prozess am Ende

Demonstration anlässlich der Urteilsverkündung im NSU-Prozess, München    (Foto: Anton Kaun)







 
"Fünf Jahre nach dem Prozess besteht der merkwürdig-paradoxe Zustand, so vieles über die deutsche Gesellschaft und ihre politischen Verhältnisse herausgefunden zu haben und trotzdem eigentlich nicht weiter zu wissen".  Dieser Satz von Lee Hielscher* erfasst ziemlich genau das, was nun nach der Urteilsverkündung im NSU-Prozess in der Luft liegt.  

Dass die Urteilsverkündung nichts wieder gut machen würde, war vielen von uns von vornherein klar. Wie soll ein Prozess zur Klärung eines hochkomplexen gesellschaftlichen Skandals beitragen, wenn schon von vornherein der Gegenstand der Verhandlung so ignorant absteckt wird. Über die Jahre hinweg waren die Beiträge von Hinterbliebenen und engagierten Nebenkläger*innen daher das Einzige, was diesem Prozess ein Stück Würde verliehen hat. 

Dass das Gericht am selben Tag der Urteilsverkündung dann tatsächlich die Freilassung eines der Angeklagten zugelassen hat - der eben noch wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung schuldig gesprochen wurde -  hat diesem Gericht den letzten Rest an Glaubwürdigkeit genommen.

Man wünscht sich, Ismail Yozgat, der Vater des ermordeten Halit Yozgat, hätte im Gerichtssaal nicht nur laut aufgeschrien, sondern den Hoheiten vor die Füße gespuckt. Er hätte allen Rückhalt gehabt. Bundesweit sind an diesem Tag Menschen angereist, nicht nur um ihre Solidarität mit den Betroffenen zu bekunden, sondern auch deutlich zu machen, dass sie die staatliche Abhandlung dieses Skandals so nicht hinnehmen werden. Mit tausenden Demonstrant*innen zog die Kundgebung schließlich durch die Stadt, -  vorne weg mit Familienangehörigen und Betroffenen.

Ein wunderschönes Sinnbild dafür, wie wichtig es ist, bei der gesellschaftlichen Aufarbeitung rassistischer Gewalt das migrantisch- situierte Wissen hochzuhalten.

In diesem Sinne sei folgender Redebeitrag vom Bündnis gegen Rassismus empfohlen, der auf der Kundegebung in München gehalten wurde und zur Reflexion darüber anregt, wie der Widerstand gegen rassistische Gewalt in Zukunft auch und gerade innerhalb solidarischer Strukturen besser gelingen kann.



Aufklärung - wohin damit?

Redebeitrag des Bündnis gegen Rassismus aus Berlin
auf der Kundgebung zum NSU-Prozessende in München 11. Juli 2018


Auch wir vom Bündnis gegen Rassismus in Berlin möchten alle wachsamen, aktiven Menschen, die heute bundesweit zusammengekommen sind, grüßen und uns für die Organisation des Tag X bedanken.

Unser Redebeitrag wird sich nicht primär mit dem Prozess beschäftigen oder damit wieviele Nazis mit dem Verfassungsschutz verbandelt sind. Vielmehr möchten wir die Frage stellen: Aufklären – wohin damit?

Wir sind das Bündnis gegen Rassismus sind ein Zusammenschluss aus antirassistischen Gruppen und Einzelpersonen aus Berlin. Wir möchten heute das Prozessende zu Anlass nehmen auch über die politische Praxis linker Bewegungen und der Zivilgesellschaft rund um den NSU Komplex selbstkritisch zu hinterfragen.

Wir haben uns nach dem Bekanntwerden der NSU-Mordserie im November 2011 zusammengeschlossen. Unser Bündnis wird maßgeblich von Menschen mit Rassismus-Erfahrungen gestaltet. Von Anfang an sahen und sehen wir die NSU-Morde nicht nur als rechtsterroristische Taten, sondern vor allem als rassistisch motivierte. Dieses Verständnis ist zentral für unsere politische Arbeit: Wir sehen Rassismus nicht nur am rechten Rand, sondern als solides System, dass unsere Gesellschaft macht. Der NSU-Fall führt uns hier einmal mehr vor Augen, dass zu der Möglichkeit über Jahre unbestraft rechte und rassistische Morde zu verüben, ein rassistischer Kontext gehört, eine Gesellschaft, die nicht wachsam, solidarisch und antirassistisch ist. Dazu gehört leider auch ein großer Teil der schweigenden weißen-deutschen Zivilgesellschaft, der die Taten hinnimmt ohne etwas zu unternehmen, der es sich mit ihren Privilegien bequem gemacht hat.

Aber gerade in den politischen Kämpfen rund um den NSU Prozess und zu anderen rassistischen Morden in Deutschland wird uns einmal mehr bewusst, dass Rassismus und die Reflexion darüber was Rassismus eigentlich ist, auch Thema linker Antira und Antifa Gruppen sein muss – denn auch diese befinden sich nicht außerhalb dieser gesellschaftlichen Ordnung.

Wir haben uns von Anfang an darauf konzentriert unsere Communities, auch international zusammen zu bringen und uns auszutauschen, zu vernetzen, von unseren eigenen Widerstandsgeschichten zu lernen und uns mit den Opfern rassistischer Morde und Gewalt solidarisieren.

Seit dem 4. November 2011 gibt es nun verschiedenste Formierungen, Initiativen und Gruppen, die teilweise auch sehr erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung vollbracht haben, sich gegen rassistische Gewalt auflehnen und Gerechtigkeit fordern.

Die Forderung nach Gerechtigkeit war in den herrschenden Diskussionen und Analysen zum NSU in erster Linie aber immer an die Forderung nach "lückenloser" Aufklärung der Morde geknüpft. Doch wir fragen uns, was soll eigentlich Aufklärung für ein Motiv für unsere Kämpfe darstellen? Wer klärt wen über was wo auf? Und wer beurteilt am Ende, dass es wirklich keine oder eine Aufklärung gab? Wäre das Urteil ein Besseres, wenn Emminger zu mehr Jahren verurteilt worden wäre?

In unseren Communities geht es eben nicht nur darum, sich im Jurist*innendeutsch und mit verzweifeltem Rekonstruieren vermeintlicher involvierter Nazinetzwerke und deren Verbindungen zu Staatsbeamt*in XY abzumühen. Gerechtigkeit zu suchen und einzufordern meint für uns genau das nicht, sondern stattdessen konkrete gesellschaftliche, politische, juristische Konsequenzen für Betroffene und alle rassifizierten Communities zu ziehen! Bei all den Konferenzen, wissenschaftlichen Artikeln, Büchern, Zeitungsartikeln, Podien, Demos, Vernetzungen ging es in den letzten Jahren fast ausschließlich um dominanzgesellschaftliche weiße Sichtweisen auf diese Mordserie, die einfach so geschehen konnte - wie zuletzt wieder in Dessau, wo die Studentin Yangji Li von Nazis bestialisch ermordet wurde -
und weiterhin geschehen, weil wir nicht aktiv zuhören, wenn Betroffene klagen. Deren Klagen finden nicht immer vor Gericht statt.

Nun also unsere Fragen an euch für eine„"lückenlose Aufklärung" der tödlichen Gewalt, die uns noch über Generationen in diesem Land beschäftigen wird:

  • Wer – außer den Betroffenen und Angehörigen - kümmert sich um die Forderungen und gesellschaftliche Konsequenzen für die Betroffenen?

  • Wer kümmert sich um die großen Lücken, die sich in ihrem Leben aufgetan haben?

  • Warum mussten genau diese Menschen sterben?

Die Zeit, die in juristische Zerpflückung und Antinaziaktionismus investiert wird, ist die Zeit, die den Betroffenen und Angehörigen aber auch uns geraubt wird für eine menschenrechtliche, emanzipatorische, solidarische aber auch sich heilende Gesellschaft!

Es ist heute ja regelrecht Mode geworden Betroffene und Opfer rassistischer Gewalt auf Podien einzuladen, auf Bühnen sprechen zu lassen oder politische Arbeit gemeinsam zu gestalten. Wir mussten allerdings in unserer Bündnisarbeit immer wieder feststellen, dass Betroffenen zwar zugehört aber sie nicht aktiv gehört werden. Einige kurze Beispiele, wo nicht genau hingehört wurde:


  • 2006 kamen die Familien der Mordopfer der NSU Mordeserie zu einer großen Demonstration in Kassel zusammen, warnten vor dem nächsten Opfer und forderten „Kein Zehntes Opfer“. Das war viele Jahre bevor wir offiziell von einer Formierung des NSU erfahren haben. Sie wurden nicht gehört.
  • Auch im Fall Oury Jalloh – die Genoss*innen haben ja heute gesprochen –
wussten die Freund*innen von Oury Jalloh schon an dem Tag als er am lebendigen Leib verbrannt wurde, dass es Mord war, dass die Polizei ihn ermordet hat. Aber die sogenannten solidarischen Strukturen oder linke Gruppen haben den Slogan „"Das war Mord“ nicht annehmen können, weil die Beweislage es zu dem Zeitpunkt nicht zugelassen hat. Die Freund*innen wussten das aber von Anfang an.
  • Und auch viele andere Vernetzungen wie auch das NSU Tribunal haben es -trotz guter Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung – nicht geschafft über die Inszenierung der Klage der Betroffenen und Initiativen hinaus zu gehen und sich konkreter mit den gesellschaftlichen aber auch psychischen Konsequenzen des NSU Komplex für die Betroffenen aber auch alle anderen rassifizierten Communities in Deutschland auseinander zu setzen und den Mainstreamdebatten neue und auf unseren Erfahrungen basierende Impulse zu geben. Auch die Anwält*innen haben großartige Arbeit geleistet, aber auch von ihrer Perspektive kamen keine konkreten Handlungsoptionen für weitergehende Konsequenzen für Rassimusbetroffene. Das kritisieren wir.

Wir fragen uns also:

Wessen Perspektiven auf rassistische Gewalt zählt also? Wessen Analysen der Ereignisse werden ernst genommen und mit politischer Handlung flankiert? Wessen Strategien – auch hier im Prozess, nicht nur in der Öffentlichkeit – setzen sich durch? Wer profitiert am Ende und wer bleibt mal wieder auf der Strecke?

Seit das Bündnis gegen Rassismus besteht will es die Perspektiven der Betroffenen auf Rassismus, als ihre eigene gemachte Erfahrung, stärken und in politische Debatten jenseits von politischen Mainsteam und linksradikalem Konsens intervenieren. In Zeiten in denen die Anderen – also wir - zur Gefahr für Recht und Ordnung erklärt werden, was wir etwa an den Täter-Opfer-Umkehrungen der rassistischen Ermittlungspolitik des deutschen Justizapparats sehen, werden Migrant_innen, People of Color und Schwarze Menschen in dieser rassistischen gesellschaftlichen Atmosphäre immer häufiger angefeindet.
Deutschland - also auch ihr - ist sehr gut darin Täter Opfer Umkehrungen zu betreiben und somit alles gesellschaftliche Übel auf die Anderen - also uns - zu projezieren, sodass am Ende alle, die Rassismus in diesem Land beklagen, selbst als Täter*innen oder Rassist*innen gebrandmarkt werden. Auch wir waren Zielscheibe dafür und wurden von den sogenannten solidarischen Strukturen wegen unseren politischen Arbeit angefeindet.So mussten wir immer wieder Antisemitismusvorwürfe von vermeintlich linken Gruppen über uns ergehen lassen, was dazu führt das jegliche solidarische Bündnisarbeit für uns unmöglich wird, da unsere Arbeit und unsere Perspektiven zum Schweigen gebracht werden sollen– auch dann, wenn es um Gewalt an unseren Communities geht - wie im Falle des NSU.

Für die Zukunft brauchen wir ein aktives Hören auf Betroffene rassistischer Gewalt und migrantisch - diasporischer Zivilgesellschaft, denn sie sind eine gesellschaftliche Kraft (und nicht einfach eine Bewegung), die von allen solidarischen Seiten mit anerkannt, erhalten und wachsen muss, sonst wird es keine radikalen Veränderungen in unserer Gesellschaft geben und die rassistischen Morde, werden immer weitergehen. Wer schweigt stimmt zu. Und wer Betroffene von Rassismus zum Schweigen bringt - tut das auch!

Wir grüßen alle, die trotz nazistischer und rassistischer Kontinuitäten bis heute ihren Widerstand weiterhin meistern, alle Opfer rassistischer Morde und deren Angehörigen, alle Schwarzen Personen, alle Romnija, alle Jüd*innen, alle Muslim*innen, die tapfer weitermachen und sich organisieren. Wir grüßen unsere Genoss*innen und Communities in Europa, im Nahen Osten und der ganzen Welt, die derselben rassistischen Gewalt zum Opfer fallen. Wir grüßen unsere Genoss*innen in Frankreich, die Tapfer gegen Polizeigewalt aktiv sind und gemeinsam mit uns Aktionen gemacht haben, wir grüßen Vie Volée, Urgence Notre Police Assasine, wir grüßen die Familie von Yangji Li, wir grüßen die Familie von Fadl Hussam, der von der Polizei erschossen wurde, wir grüßen Oury Jalloh und alle Opfer rassistischer Polizeigewalt. Und mit diesen Grüßen verabschieden wir uns. Vielen Dank.




                                               Omuz omuza gegen Rassismus, Tag X München, 11.7.2018      (Foto: Massimo Perinelli)





























Weiterführende Links zu lesenswerten Kommentaren:

Sheila Mysorekar: Von Schreddern einer Demokratie. Zeit Online, 11.7.18

Esther Dischereit:  Es darf kein Schlussstruch geben. Deutschlandfunk Kultur, 11.7.18

Mely Kiyak:  Gestammeltes Requiem. Zeit online, 11.7.18

Robert Andreasch: Fünf Jahre in der Beobachterrolle,  FR-Online, 11.7.18 

Ferda Ataman: Nichts ist wieder gut. Zeit Online, 14.7.18



* Lee Hielscher: Das Staatsgeheimnsi ist Rassismus. Migrantisch-situiertes Wissen um die Bedeutungsebenen des NSU-Terrors. S.187. In: movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung: Rassismus in der Postmigrantischen Gesellschaft, Jg.2, Heft1/2016, Transcript Verlag

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