Von Emre Søren Akal
Staatsmachtverfolgungsparanoia – mein Thema der letzten zwei
Wochen, in denen ich als Schauspieler im Stadtprojekt „Youturn“ von Christiane Mudra als Teil einer Kontrollmaschinerie durch München lief.
Foto: Kostis Kallivretakis
Der Teilnehmer startet
alleine an einem Ort, mitten in der Stadt, zum Beispiel am Giesinger Bahnhof.
Am Startpunkt liegen
Informationen über die erste Etappe der Route für ihn bereit. Über einen Anruf
erfährt er, dass hinter einer Reklametafel seine Informationen versteckt sind
und wohin er als nächstes muss, um mehr zu erfahren. In der U-Bahn hat er Zeit
zu lesen und die Puzzlestücke langsam zusammenzusetzen.
Meine Aufgabe: Beobachtung, Verfolgung und das Instruieren des einzelnen
Teilnehmenden, der an verschiedenen Punkten der Stadt Fetzen und Hinweise über
das reale Verfolgungsschicksal einer Deutsch-Ägypterin durch die USA findet und
gleichzeitig am eigenen Leib die Verfolgung erlebt. Der Zuschauer erhält Informationen über
Spionagefirmen in München, die mit den Behörden zusammenarbeiten. Am
Justizgebäude erfährt er mehr über die NSU und spätestens nach dem Anruf „Sie
sitzen jetzt am Sendlinger Tor. Neben ihnen eine Frau mit roter Tasche“ weiß
er, dass ihn jemand verfolgt.
Wer gehört dazu? Wer ist Teil des Spiels? Die Bulgarenpartei
vielleicht, die ihre Geschäfte jetzt in der U-Bahn abwickelt, da die
Goethestrasse von den Kammerspielen ausspioniert wird? Wieso haben alle Handys in der Hand? Weshalb
laufen hier so viele Frauen mit Kopftuch herum? Da stimmt doch was nicht. Der
Blick des Zuschauers schweift ängstlich umher. Er beginnt seine Umgebung
wahrzunehmen. Zum ersten Mal?
Das ist natürlich das Beispiel des interessierten Teilnehmers, der
ohne Voreingenommenheit in das Stück geht. Dann gibt es noch den, der sein
Leben der Kunst gewidmet hat, Kritiken schreibt, Festivals organisiert, fast
blind für alles ist, was außen herum geschieht, sich wie ein Paket fühlt, das
durch die Stadt geschoben wird und dies auch lauthals kundtut, während er die
Tour kurz vor Ende abbricht. Aber eines haben sie gemeinsam: Sie lösen in mir
ein Gefühl der Macht aus. Widerliche Bilder von Aufsehern und amerikanischen
Zollbeamten – vor allem aber die Istanbuler Polizei mit ihren Gasbomben,
schießen mir ständig als Warnung durch den Kopf. Ich fühle mich mächtiger, als
die verfolgten Personen. Spüre, was es bedeuten könnte in einem engmaschigen
Mechanismus eingebunden zu sein und die Geilheit dieser Macht zu genießen.
Der Verfolgte ist immer in meinem Blick, auch wenn ich vor ihm sitze
und ein Foto von ihm schieße, oder manchmal auch ein Video mache. Der
Nervenkitzel unbemerkt so nah wie möglich an die Person zu kommen, nimmt
abstrakte Formen an. Es geht soweit, dass ich den Teilnehmer frage, ob er ein
Foto von mir schießen würde. Ein anderer Teilnehmer fragt mich, ob ich ihm
helfen könne, weil er zu einem Zeitungskasten am Stiglmaierplatz gehen müsse.
Im Nachhinein waren alle verwundert über die Fotos, die ich ihnen gezeigt habe.
Die türkischen Zeitungsverkäufer am Sendlinger Tor, der pakistanische
Dönerverkäufer, der Obdachlose mit der Flöte, der ständig vom Stiglmaierplatz
vertrieben wird und der Mann, der mich jeden Tag zur gleichen Zeit in Giesing
fragt, welche U-Bahn nach Feldmoching fährt – Sie alle hingegen fangen an mich
nach kurzer Zeit zu grüßen. Wir bewegen uns in derselben Ebene jenseits der
Realität. Der Verfolger, der Verfolgte und die Menschen, die mein
kontinuierliches Eindringen in Ihr Revier bemerkt haben. Nach der ersten
Spielwoche erkenne ich einen Mann, den ich an einigen Stationen immer wieder
sehe. Er ist neu im Spiel – das merke ich sofort. Ich vermute, dass er die Informationsblätter
liest, die ich vor dem Teilnehmer schnell in einer Telefonzelle oder hinter
einem Werbeplakat ablege. Werde ich nun auch verfolgt? Paranoia?
Dass überall Kameras sind wusste ich, aber plötzlich fallen mir welche
auf, die als Laternen verkleidet sind, wie zum Beispiel am Sendlinger Tor vor
der St. Matthäus Kirche. Bin ich nun ein Fall für den Verfassungsschutz? Das
Spiel dreht sich, ich fühle mich verfolgt und sehr oft sogar entlarvt –
und zwar von einer ganz anderen Ecke.
Farbige, Moslems mit langen Bärten und auch die Bulgarenpartei, also alle die,
die selbst einer ständigen Beschattung und Kontrolle des Staatsapparates
unterworfen sind. Sie alle geben mir zu verstehen „Wir wissen, dass du ein
Verfolger bist“. Gerade diejenigen, die einzig aufgrund ihres Aussehens einem Generalverdacht
unterliegen. Die von der Polizei ständig vorsorglich kontrolliert werden. Die
einen Zivilpolizisten schon von Weitem erkennen. Gerade die blicken mir in die
Augen, grinsen und scheinen die Macht zu genießen auch mal Verfolger zu sein.
Immer wieder denke ich an die Frage nach der Legimitation, Menschen zu
verfolgen und auszuspionieren. Wer beschließt all diese Dinge in einem Staat,
von dem meine Eltern meinen, dass in ihm die Rechte und die Würde der Menschen
beschützt werden. (Übrigens einer der Gründe, warum sie heute hier leben).
Mich lässt das Gefühl nicht los, dass ich als Verfolger jetzt sensibilisierter
bin als die Verfolgten. Das ist etwas Neues, denn verfolgt zu werden ist so in
unsere Gesellschaft hineingebrannt, dass man es schon gar nicht mehr wahrnimmt.
Seine Umwelt offener wahrzunehmen, die Kameras in jeder Verkleidung zu
erkennen – in Zeiten von Google, Twitter und Facebook, in denen das
geschriebene Wort und das veröffentlichte Foto für die Ewigkeit gespeichert werden
und man nicht genau weiß, wer eigentlich Zugriff darauf hat, ist es wichtiger
denn je, endlich zu hinterfragen.
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